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Trauer Was ich nach dem Tod meines Vaters von meinen Freunden gebraucht hätte

Ein Frau, die voller Trauer ist
Unsere Autorin hofft, anderen den Umgang mit Tod und Trauernden zu erleichtern
© Matthew Henry/Unsplash
Als ihr Vater stirbt, ist unsere Autorin nicht nur tieftraurig. Sie spürt auch, dass Freunde im Umgang mit ihr überfordert sind. Im Moment der Trauer kann sie ihnen nicht dabei helfen, ihr zu helfen. Eine Expertin erklärt, was Trauernden hilft.
Von Leonie Andersen
Und dann hast du aufgehört zu atmen, Papa. Die Kerze, die seit Wochen neben deinem Bett steht, brennt zum ersten Mal. Mein Bruder holt Decken, wir legen uns aufs Sofa. Vor mir liegt die Hülle, in der dein Herz eben noch geschlagen hat. Die Hülle ist jetzt leer, du bist trotzdem noch hier.

Am nächsten Tag spüre ich, wie deine Hände kälter werden. Zwei kräftige, große Männer, die niemand kennt, kommen in die Wohnung, die du seit Monaten nicht mehr verlassen hast. Als sie deinen Körper auf eine Trage legen, drehe ich mich um und muss würgen. So wie sich dein Körper bewegt, so bewegt sich niemand, der schläft. Ich sehe nicht, wie sie das Tuch über dein Gesicht legen. Als ich mich wieder umdrehe, will ich es herunterreißen.

Wie die folgenden Tage vergehen, weiß ich nicht. Wir kaufen eine Urne, planen eine Trauerfeier, erzählen einer Rednerin von dir. Warum erzählst du ihr das alles nicht selbst?

Die echte Welt will ich nicht mehr sehen

Mir ist eiskalt. Oft kreuze ich meine Arme vor der Brust und drücke meine Fäuste auf die Stelle unterhalb meiner Schlüsselbeine. Wenn mein Herz sich anfühlt, als ob es auseinanderfällt, hält der Druck es zusammen.

Ich kann gehen, reden und manchmal essen. Zwischen meinem Kopf und meinem Herzen ist keine Verbindung mehr. Alle Gefühle sind eingeschlossen in meiner Brust. Anders würde ich nicht funktionieren. Wenn Leute mir ihr Beileid aussprechen, antworte ich wie ein Roboter. Wenn ich fühle, bleibe ich tagelang im Bett. 16 Stunden läuft dann Netflix. Wenn es still ist, habe ich Schmerzen.

Stephanie Witt-Loers leitet das Trauerinstitut "Dellanima". Sie sagt:

"Wenn jemand stirbt, sind die Angehörigen oft wie betäubt. Anfangs können viele nicht glauben, was passiert ist. Grundlegendes wie essen, trinken und schlafen fällt Trauernden schwer. Gleichzeitig müssen sie viel Bürokratisches erledigen, das kann überfordern. Deshalb ist es für die Trauernden zunächst am wichtigsten, dass jemand sie im Alltag unterstützt. Die Trauer selbst verarbeiten sie häufig erst später, jetzt geht es erst einmal darum, das Überleben zu sichern. Hilfreich sind vor allem praktische Dinge: Einkaufen, Wohnung putzen, Fahrdienste oder Anrufe erledigen. Wer hier etwas übernimmt, hilft."

Jeden Tag stellt uns jemand anders Essen vor die Tür, Freunde, Nachbarn. Vielleicht haben sie sich sogar abgesprochen, ich weiß es nicht. Manche fragen vorher, worauf wir Appetit haben. Wenn wir nicht antworten, bringen sie uns irgendetwas. Wenn einer von uns Lust auf Gesellschaft hat, machen wir auf. Meistens öffnen wir die Türe nicht.

Selber einkaufen, das kommt nicht infrage. Die echte Welt will ich nicht mehr sehen. Sie hat jetzt andere Farben als früher. In mir ist alles schwarz, draußen wird es immer bunter. Jeder Sonnenaufgang schreit mich an. Alles geht weiter, obwohl du nicht mehr da bist.

Wie soll das gehen, ein Leben ohne dich?

Früher waren da einfach nur Jahre, die vergingen. Jetzt gibt es ein Davor und ein Danach. Früher hatte ich einen Platz im Leben. Es gab mal Hindernisse, aber ich wusste, wohin ich ging. Jetzt stehe ich vor einer weißen Unendlichkeit, die ich nie wollte. Die Tür zurück ist fest verschlossen, weitergehen kann ich nicht. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wohin. Würde ich meinen Brustkorb aus mir herausschneiden, es würde weniger wehtun als das, was ich fühlen muss.

Stephanie Witt-Loers: "Es wird nie wieder so werden wie früher. Trotzdem sind die Erwartungen von außen oft sehr hoch. Das Umfeld wünscht sich, dass der Trauernde schnell wieder normal wird und funktioniert. Trauern als lebenslanger Prozess ist jetzt jedoch das neue Normal. Reaktionen und Bedürfnisse sind dabei von Mensch zu Mensch und von Tag zu Tag unterschiedlich. Die Beziehung zum Verstorbenen, die Umstände des Todes, Erziehung und Kultur, all das beeinflusst, wie Menschen mit ihrer Trauer umgehen. Das Umfeld sollte Schwankungen akzeptieren und nicht bewerten. Es ist für beide Seiten ein Lernprozess zu sagen: Genau so, wie es ist, ist es okay."

Ich fühle mich nicht ausgeruht, egal wie lange ich schlafe. Nach ein paar Stunden muss ich mich wieder hinlegen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Tag zu überstehen. Wenn ich schlafe, muss ich weder fühlen noch funktionieren. Wenn ich wach bin, will ich, dass mir jemand zuhört.

"Wer Trauernden geduldig zuhört, hilft!"

Mein Bruder möchte, dass keiner ihn anspricht. Für mich ist jedes Wort, in dem es nicht um Papa geht, sinnlos. Trotzdem ist es eine Überwindung, über ihn zu sprechen. Von alleine schaffe ich es nicht. Jemand muss fragen und meine Antworten aushalten. Aufrichtiges Interesse und Offenheit tragen Worte und Tränen heraus aus meinem Körper. Aber nur ein Anflug von Unbehagen im Gesicht oder in der Stimme meines Gegenübers, und sie bleiben mir im Hals stecken.

Stephanie Witt-Loers dazu: "Wenn Trauernde sich nicht an den Verstorbenen erinnern dürfen, kann das wie ein doppeltes Sterben sein. Wer Trauernden geduldig zuhört, hilft, den Verlust zu verstehen egal wie oft sich das Gesagte wiederholt oder im Kreis dreht. Von sich aus das Thema anzusprechen, fällt vielen Trauernden schwer. Deshalb helfen sanfte Impulse, um ins Gespräch zu kommen: Möchtest du darüber reden, wie es dir geht? Magst du mir erzählen, was du am meisten vermisst? Wein, so viel du willst! Als Gegenüber stellt man eigene Erfahrungen besser zurück und bewertet vor allem nicht."

"Ruf mich immer an, wenn du was brauchst." Sätze, die Freunde schreiben. Gut gemeinte Sätze. Wenn ich die Kraft hätte, würde ich mein Handy auf den Boden werfen. Ja, ich brauche euch. Ich brauche etwas. Aber was? Woher soll ich das wissen? Ich hatte noch nie einen toten Vater. Ich habe keinen Plan. Ich schreibe nicht. Ich rufe nicht an.

Stephanie Witt-Loers: "Nie sollte man Trauernden allein die Initiative überlassen und dann sagen: 'Na ja, du hast dich ja nicht gemeldet.' Die meisten Menschen schaffen es ja so schon nicht, um Hilfe zu bitten. In einer Trauersituation ist das meist noch viel schwieriger. Wer offene Fragen stellt, übergibt die Verantwortung an den Trauernden. Besser sind konkrete Angebote: Ich gehe morgen einkaufen, kann ich dir etwas mitbringen? Heute Nachmittag gehe ich spazieren, möchtest du mitkommen? Darf ich heute Abend für dich kochen? Außerdem ist wichtig, nie aufzugeben, sondern kontinuierlich Kontakt zu halten. Wer merkt, dass er emotional oder zeitlich keine Kapazitäten hat, sollte das direkt sagen. Schlimm ist es, bei Trauernden mit Ansagen wie ,Ich bin immer für dich da‘ falsche Hoffnung zu wecken und sie dann zu enttäuschen."

Das Leben meiner Freunde ist ganz geblieben

Irgendwann, ich weiß nicht wann, ist die Trauerfeier vorbei. Meine Mutter geht wieder zur Arbeit, mein Bruder in die Schule. Ich kann nicht zur Uni, weil da Menschen sind. Was, wenn sie wissen wollen, wie meine Semesterferien waren? Das Leben meiner Freunde ist ganz geblieben. Sie haben Beziehungsprobleme, Klausurenphase, Arbeitsstress. Ich habe keinen Vater mehr. Während alle wieder in ihrem Alltag versinken, treibe ich alleine weiter. Auch wenn ich nicht telefonieren will, wünsche ich mir, dass sie anrufen. Mein Handy vibriert: "Ich bin für dich da." Es reicht nicht.

Als ich aus der U-Bahn steige, kommt mir ein alter Grundschulfreund entgegen. Er ist angespannt, umarmt mich und fragt mit gezwungenem Lächeln: "Und, was machst du so?" Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, und zucke mit den Schultern. Er weiß, dass Papa gestorben ist, und tut so, als wäre alles wie immer.

Stephanie Witt-Loers dazu: "Viele sprechen die Situation nicht an, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen. Aber man schont den Trauernden nicht, wenn man über den Verlust schweigt. Es ist okay, Fragen zu stellen. Nur muss man damit rechnen, dass die Person dann weint oder gerade nicht darüber reden möchte. Das sollte man akzeptieren und es später einfach noch mal versuchen. Nach einem abgelehnten Angebot ziehen sich viele gekränkt zurück, dann fühlt sich der Trauernde schnell isoliert."

Manche Tage sind so, als würde er noch leben

Es ist Sommer, und ich treffe mich mit Freunden zum Picknicken am See. Heute ist der Hochzeitstag meiner Eltern. Auf dem Weg streite ich mit meinem Freund. Wir kommen an, ich bin kurz angebunden. Karina reagiert genervt, ich solle aufhören, schlechte Stimmung zu verbreiten. Ich stehe auf, schwimme durch den See und beobachte die Punkte am anderen Ufer. Mir ist kalt, aber ich will nicht zurück. Mein Freund folgt mir. Die Wut ist verflogen, ich war nie wirklich sauer und schon gar nicht auf ihn. Er weiß das und nimmt mich in den Arm. Ich werfe Steine gegen die Felswand. Er bückt sich, hebt Felsbrocken auf und legt sie in meine Hand. "Ich sammle so viele, wie du brauchst." Ich fange an zu weinen.

Stephanie Witt-Loers dazu: "Auch Gefühle wie Wut, Hass oder Neid sind normal. Sauer zu sein, wenn andere sich nicht um eine gute Beziehung zum eigenen Vater bemühen, oder neidisch zu sein, weil jemand beide Eltern noch hat das kann dazugehören, dafür muss sich niemand schämen. Der Trauernde ist in einem Ausnahmezustand, irritierendes Verhalten sollte keiner persönlich nehmen. Besser sind Angebote, zu schreien, zu schlagen, Gefühle rauszulassen. Auf jeden Fall zu vermeiden sind Sätze wie diese: Die Erfahrung hat dich persönlich doch sicher stärker gemacht. Das wird wieder. Das Leben geht weiter."

Manche Tage sind so, als würde er noch leben. Ich bin vor Jahren ausgezogen, wir haben selten telefoniert. Wenn ich meine Eltern besuche und er nicht da ist, stelle ich mir einfach vor, er arbeite gerade.

Dann muss ich meinen Bafög-Antrag ausfüllen. Ich schreibe den Namen meines Vaters und kreuze daneben "Verstorben" an. Die Zeile ist mir vorher nie aufgefallen, jetzt boxt sie mich in die Magengrube.

Beim Frauenarzt will die Sprechstundenhilfe wissen, ob es Krebserkrankungen in meiner Familie gibt. "Irgendwelche davon tödlich?", fragt sie, den Blick auf ihren Bildschirm geheftet. Ich muss nicken.

Im Kino beginnt eine Krankenkassenwerbung. Das Kind umklammert seinen Teddy, dramatische Musik, der Vater wird bestrahlt. Dann ist er geheilt und liegt seiner Familie in den Armen.

Einen geliebten Menschen zu verlieren – eine neue Gefühlsebene

Im Bus gucke ich aus dem Fenster. Diesen Weg bin ich seit einem Jahr nicht mehr gefahren. Das Krankenhaus ist ausgeschildert, dann verschwindet es wieder in der Dunkelheit. Dort haben wir letzte Weihnachten auf der Intensivstation verbracht. Auf der Straße hocke ich mich auf den Bürgersteig, weil meine Beine nicht aufhören zu zittern.

Stephanie Witt-Loers dazu: "Auch nach Wochen, Monaten und Jahren ist die Trauer nicht vorbei. Neben Geburtstag, Weihnachten und dem Todesdatum können auch kleine Dinge Trauerreaktionen auslösen. Was früher normal war, erfordert jetzt besonderes Einfühlungsvermögen von anderen. Es wäre beispielsweise achtlos, nur von den eigenen Plänen für den Vatertag zu erzählen. Stattdessen kann man fragen: Wie geht es dir damit? Auch bei wichtigen Ereignissen wie einer Hochzeit wird es schmerzhaft sein, wenn der Vater sie nicht mehr miterleben kann. Das anzusprechen wirkt häufig entlastend. Dann kann man gemeinsam überlegen: Wie kann der Vater in anderer Form dabei sein?"

Beim "Titanic"-Gucken, bei Liebeskummer oder einer schlechten Note werden Menschen traurig. Deshalb benutze ich dieses Wort nicht, um zu erklären, was ich fühle. Das wäre, als würde man einen MDMA-Trip als "glücklich" bezeichnen und erwarten, dass jeder weiß, wie sich Draufsein anfühlt. Nach dem Verlust eines geliebten Menschen kommt eine Gefühlsebene dazu, die man vorher nie betreten hat. Deshalb will ich nicht hören, dass Johanna "weiß, wie ich mich fühle". Weiß sie nämlich nicht. Muss sie auch nicht.

"Schmerz zeigt, wie sehr wir den verstorbenen Menschen lieben"

Mittlerweile schaffen es die meisten, einfach meine Hand zu nehmen oder mich im Arm zu halten. Mir meinen Schmerz abnehmen kann keiner, bei mir bleiben, während ich ihn trage, schon. Trotzdem scheinen viele den Impuls zu haben, mir Ratschläge zu geben. Als stünde es in ihrer Macht, meine Gefühle zu beeinflussen. Nichts kann Papa zurückholen, und meine Trauer ist kein Problem, das gelöst werden muss.

Stephanie Witt-Loers dazu: "Es bereitet vielen Menschen Unbehagen, andere leiden zu sehen. Der Schmerz zeigt, wie sehr wir den verstorbenen Menschen lieben. Trauer entsteht, weil etwas verloren geht, das uns wichtig war. Wir müssen lernen, den Schmerz trauernder Menschen auszuhalten. Das Gefühl, in der Trauer angenommen zu sein, hilft meist mehr als Worte, die versuchen, den Schmerz wegzunehmen oder darüber hinwegzutrösten. Ein guter Schritt ist zu akzeptieren, dass es auf manche Fragen keine Antworten gibt."

Zu Weihnachten hat mir meine beste Freundin ein Album mit Fotos von Papa geschenkt. Wenn wir zusammen Abendbrot essen, tauschen wir Erinnerungen aus. Mal bewusst, mal nur so nebenbei. "Den Karotten-Apfel-Salat hat dein Papa doch auch immer gemacht!" Dass er nicht vergessen wird, ist wichtig für mich. Papa hat mittags oft für meine Freundinnen und mich gekocht. "Danke, einer reicht", hat Karla mal gesagt, als er ihr einen Veggieburger auffüllte. "Mehr kriegst du auch nicht", hat er geantwortet, und wir haben alle gelacht. Ich muss grinsen, als sie mich daran erinnert, auch wenn mir dabei Tränen die Wange herunterrollen.

Was ist Nähe ohne einen Körper? Kann Papa nur durch Worte weiterleben? Er wird für immer bei mir bleiben, ich muss nur herausfinden wie.

Trauer: Was ich nach dem Tod meines Vaters von meinen Freunden gebraucht hätte

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