Janina und ich kennen uns seit über vier Jahren. Sie war eine meiner ersten Bezugspersonen in der neuen Stadt. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. In der Uni saßen wir in jedem Kurs zusammen, hielten gemeinsam Vorträge, arbeiteten nächtelang an Projekten und lernten für Prüfungen.
Ihre Stimmungsschwankungen tat ich oft als Launen ab – ich hinterfragte sie nicht weiter. Heute weiß ich, dass da ein dunkler Teil tief in ihrer Seele verankert liegt. Er ist nicht nur ihr ständiger Begleiter, sondern ein manifestierter Bestandteil, den sie nicht unter Kontrolle hat und der ihr seelische Schmerzen bereitet.
Meine Freundin ist krank. Sie leidet unter Depressionen. Bei Janina wurde ein depressives Verhalten bereits in der Jugend diagnostiziert. Seither befindet sie sich unregelmäßig in psychotherapeutischer Behandlung. Diese Seite hat sie lange vor mir versteckt. Vielleicht weil sie Angst hatte, mich als neu gewonnene Freundin gleich wieder zu verlieren.

Angst vor Zurückweisung
Soviel weiß ich heute: Hinter einer Depression verbirgt sich mehr als bloße Stimmungsschwankungen. Es ist eine ernste Erkrankung, die das Denken, Fühlen und Handeln der betroffenen Person beeinflusst. Antriebslosigkeit, negative Gedanken und Selbstzweifel sind typische Symptome der Krankheit, die auch auf Janina zutreffen.
Etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen. In zwei Jahren sollen Depressionen die zweithäufigste Volkskrankheit der Welt sein, meint die Weltgesundheitsorganisation. Behandlungsformen wie Psychotherapie oder Medikamente (z.B. Antidepressiva) können einer Depression entgegensteuern.
Es ist ein schwankender Prozess, den ich bei Janina tagein, tagaus beobachten konnte. Um sich selber zu schützen, hat sie irgendwann angefangen, eine Mauer um sich herum aufzubauen. Aus Angst vor Zurückweisung. Menschen, die sie nicht gut kennen, würden sie als aufgeschlossen und neugierig beschreiben. In Wirklichkeit wurde sie aber immer oberflächlicher, um nicht in der Tiefe verletzt werden zu können.Ihre Selbstzweifel ließ sie mich oft spüren. Nicht selten stellte sie unsere jahrelange Freundschaft aufgrund einer simplen Meinungsverschiedenheit in Frage. Aus Gründen, die für mich banal erschienen. Als Folge blockierte sie mich und ignorierte meine Nachrichten. Diese Art von Rückzug war ihre logische Konsequenz, um mir – wie sie oft sagte – "nicht länger zur Last zu fallen." Sie würde es mit sich selber ausmachen, denn sie sei und bleibe eine Einzelgängerin.
Ich fühlte mich übergangen, ohnmächtig, um meine Freundschaft betrogen. Sie nahm mir jede Möglichkeit, ihr eine gute Freundin sein zu können. Und dafür wurde ich auch noch bestraft. Ihr selbstzerstörerisches Verhalten färbte auf mich ab. Nach unseren Treffen fühlte ich mich häufig ausgelaugt, weil sie mir das Gefühl gab, mit ihr in Konkurrenz zu stehen. Wenn ich in einem Test besser abschnitt als sie, freute sie sich nicht für mich, sondern zeigte mir ganz offen, dass ich es nicht mehr verdient hätte als sie.
Ich veränderte mich. Mich beschäftigte die Situation Tag und Nacht. Freude sprachen mich auf meine leichte Reizbarkeit und meine plötzlichen negativen Gedankenschleifen an. Sie sagten, ich wirke irgendwie wesensverändert. Ich wusste, was sie meinen. Aber ich fühlte mich schuldig, Janina keine gute Freundin sein zu können. Ich spielte mit dem Gedanken, unsere Freundschaft zu beenden. Nicht nur einmal.
Sind das leise Hilfeschreie?
Manchmal zog sich Janina für mehrere Tage zurück. Nicht nur meinetwegen. Neue Verliebtheiten ging sie mit der Erwartung ein, früher oder später sitzen gelassen zu werden. "Das kann ich niemandem antun, wer würde so jemanden wie mich wollen", hörte ich sie ihre Gedanken aussprechen. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher.
Oft suchten mich Schuldgefühle heim. Ich bin keine Therapeutin. Ich weiß nicht, ob ihr meine aufbauenden Worte wirklich halfen, oder ob sie ihr mehr schadeten. Dieser Gedanke brachte mich oft an meine Grenzen.
Seit einigen Monaten ist sie wieder in psychotherapeutischer Behandlung. Leider ohne großen Erfolg. Ihr fällt es schwer, sich ihrem Therapeuten zu öffnen. Aber meiner Bitte sich ihm anzuvertrauen, tat sie als sinnlos und mit dem Satz "Du weißt doch, das kann ich nicht" ab.
Je häufiger wir aufeinander hingen, desto mehr Abstand brauchte ich. Raum zum akklimatisieren, um mich auf positive Dinge fokussieren zu können. Janinas Depressionsschübe überforderten mich. Ich hielt mir vor Augen, dass sie jeden Tag aufs Neue gegen ihre Krankheit ankämpfen musste. Wie sich das anfühlt, werde ich niemals in Gänze nachvollziehen können.
Wenn sie sich wieder für mehrere Tage komplett abschottete, war ich mir nie sicher, ob sie wirklich alleine sein wollte oder ob das nur ein Vorwand war. Aber sie klammerte sich an alles Schlechte und redete sich ein, niemand würde ihr dabei helfen können. "Da müsse sie jetzt alleine durch", sagte sie. Es kostete mich viel Kraft dagegenzuhalten, wenn sie einen Selbstzweifel nach dem anderen aussprach.
Ich hatte immer Argumente bereit, um ihr zu erklären, warum sie nicht hässlich und ihr Leben nicht wertlos war. Ich weiß, es liegt im Wesen der Krankheit, dass der Betroffene so gut wie alles gegen sich selbst verwendet. Für einen Außenstehenden sieht es vielleicht so aus, als würde Janina sich selbst bemitleiden. Aber ich weiß, dass sie nach Anerkennung und Aufmerksamkeit in dieser großen Welt sucht, wie insgeheim jeder von uns.
Ich versuchte, ihr die Selbstzweifel zu nehmen
Das Paradoxe ist, dass sie in ihrer eigenen kleinen, sorgsam nach diesen Mustern aufgebauten Welt, Sicherheit zu finden scheint. So holt sie sich ihre Kontrolle und Stärke zurück, die ihr sonst niemand geben kann. Ich versuche, ihr viel Verständnis entgegen zu bringen, denn ich habe das Gefühl, dass sie meine Zuneigung spürt.Es sind Worte, die ich ihr zwar nicht wie eine Therapeutin, aber wie eine Freundin sagen kann. Ich kann für sie da sein. Ihr zuhören. Nachfragen. Ihr meine Aufmerksamkeit schenken. Für eine fortlaufende Freundschaft — das habe ich gelernt — ist es wichtig, dass auch ich auf mich acht gebe.
Die Depression eines nahestehenden Menschen durchzustehen, kostet viel Kraft, Geduld und Liebe. Solange es mir selbst dabei gut geht, habe ich diese Kraft und kann Janina zumindest ein wenig Unterstützung auf ihrem Weg bieten. Und eines Tages, das wünsche ich mir, wird sie sich hoffentlich selber glücklich machen können.