Adam besucht die zehnte Klasse einer orthodoxen High School in New York, als er einen Erwachsenen zum ersten Mal das Wort "schwul" sagen hört. Der Kurs bespricht in dieser Unterrichtsstunde den Roman "Das Bildnis von Dorian Gray" von Oscar Wilde. Der Künstler wurde wegen seiner Liebe zu Männern zu Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Adam weiß an diesem Schultag schon seit einer Weile, dass auch er schwul ist und dass seine Gefühle laut der hebräischen Bibel unsittlich sind. "Macht mich das zu einem schlechten Juden?", fragt er sich.
Ein Junge, der nicht weiß, wer er ist
"Im orthodoxen Judentum wird das Wort der Tora sehr genau genommen. In ihr steht deutlich geschrieben, dass man nicht schwul sein darf", sagt Adam, der heute 29 Jahre alt ist. Im Teenageralter hasst er die Schule aus zwei Gründen: Er ist mit seiner Homosexualität allein, zudem hat er eine Lernschwäche.
Als er halbwegs gut Englisch lesen kann, lernt der Rest der Klasse schon das hebräische Alphabet. Die täglichen zwei Gebete während der Unterrichtszeit sind ihm besonders in Erinnerung geblieben: "Unsere Lehrer haben uns dabei beobachtet. Ich habe die Zeichen in der Tora angestarrt und nichts verstanden. Das war schrecklich."
Zuhause werden Adam und seine zwei Brüder von den Eltern größtenteils nach dem konservativen Judentum erzogen. Bei dieser Strömung des Judentums wird nach einem Mittelweg gesucht: Die Tradition soll bewahrt werden, Modernisierungen sind aber nicht ausgeschlossen. Die Familie, die in dritter Generation in den USA lebt und russische Wurzeln hat, besucht am Schabbat die Synagoge. Eine Qual für den Jungen, der nicht weiß, wer er ist und wer er sein will.
"Ich habe mir gesagt: Ab heute bin ich kein Jude mehr!"
Als Adam aufs College wechselt, trifft er eine Entscheidung. "Ich habe mir gesagt: Ab heute bin ich kein Jude mehr!" Er verlässt den jüdischen Freundeskreis und geht am Schabbat nicht mehr in die Synagoge. Er zieht in den New Yorker Stadtteil Green Village, beginnt sich für die Rechte der LGBTQ-Szene einzusetzen und schlendert durch die Gassen, in denen in den 60er-Jahren der Stonewall-Aufstand, ein historischer Wendepunkt für Homosexuelle in den USA , stattgefunden hat.
2017 ändert ein Artikel des US-Magazins "New Yorker" Adams Leben schlagartig. Die russische Journalistin Masha Gessen berichtet darin über gewalttätige Verhöre von Homosexuellen in Russland und zahlreichen Ermordungen in Tschechien. "In meinem Körper wurde irgendwas freigesetzt. Ich dachte: Niemals wieder", beschreibt Adam das Gefühl, gegen die Unterdrückung etwas unternehmen zu müssen.
"Schwule sind für Schwule weltweit verantwortlich"
Weltweit gibt es heute etwa 14,6 Millionen Juden, was ungefähr 0,19 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. "Meine Mutter hat immer gesagt: 'Wir sind eine Minderheit. Das gegenseitige Unterstützen ist genauso wichtig wie der Schabbat' ‘", erzählt Adam. Deswegen sei sie in den 60er und 70er Jahren jeden Freitag zur Radiostation gelaufen, um die Namen von unterdrückten und gefangenen Juden in der damaligen Sowjetunion vorzulesen.
Denn: Ausreisewillige Juden durften den Staat nicht verlassen, obwohl die antisemitische Stimmung immer spürbarer wurde. Gutgebildete Juden durften Berufe wie Mediziner nicht mehr ausüben und gerieten in eine finanzielle Notlage. In den USA riefen Adams Mutter und weitere Aktivisten zu Beistand auf, sammelten Spenden und versuchten, den Betroffenen in der damaligen UdSSR Mut machende Briefe zukommen zu lassen. Die Botschaft: Du bist nicht allein.
"Plötzlich wollte ich diesen solidarischen Grundsatz des Judentums auf die LGBTQ-Szene anwenden," sagt Adam. "Schwule sind für Schwule weltweit verantwortlich." Als er den besagten Zeitungsartikel im "New Yorker" liest, fasst er den Entschluss, seine heutige Organisation Voices4 zu gründen. Die Organisation ist zwar von jüdischen Prinzipien inspiriert, heißt aber alle Menschen unabhängig von ihrer Religion willkommen. So arbeiten die Mitglieder mittlerweile unter anderem mit "IRAQueer" zusammen, einer LGBTQ-Bewegung aus dem Irak, und stehen mit Homosexuellen aus anderen arabischen Ländern in Kontakt.
Jüdisch und schwul – eine Superkraft
Der jüdische Glaube findet heute wieder Platz in Adams Leben. "Mir wollten viele Menschen einreden, was ich zu tun habe, um ein guter oder korrekter Jude zu sein. Heute weiß ich, dass das Unsinn ist. Ich glaube, es ist meine Superheldenkraft, dass ich beides bin: schwul und jüdisch", sagt Adam. "Schwule und Juden haben gemeinsam, dass sie beide lange unterdrückt wurden und auch heute noch vor fast identischen Problemen stehen. Denn Menschen, die homophob sind, sind sehr häufig auch antisemitisch und rassistisch", sagt er. Heute sieht er sich in der Pflicht, Unterdrückung jeglicher Art entgegenzuwirken.
Ganz besonders will sich Adam für die Diskriminierten in Osteuropa einsetzen. Gemeinsam mit einer LGBTQ-Gruppe aus Russland hat er dieses Jahr einen Marsch in New York organisiert, der von der legendären Bar Stonewall in seinem Viertel bis zu den Trump-Towern verlaufen soll. Fotos von diesem Tag zeigen Adam mit einer pinken Kippa. Sie soll zeigen: Glaube und gleichgeschlechtliche Liebe schließen einander nicht aus. Bei dem Marsch recken die Aktivisten Plakate in die Höhe. "Die LGBTQ-Familie kennt keine Landesgrenzen", ist zu lesen. Andere zeigen Portraits von Gefangenen aus Osteuropa.
Darunter: Zeichnungen von Ali Feruz, einem usbekisch-russischen Journalisten, der sich für Schwulenrechte einsetzt. Das ist kein Zufall, denn sein Schicksal geht vielen in der LGBTQ-Szene sehr nahe – auch Adam. Nachdem Ali Feruz 2009 in seiner Heimat Usbekistan gefoltert wurde, weil er keine Informationen über die dort illegale LGBTQ-Szene rausrücken wollte, gelang ihm die Flucht nach Russland. Im August 2017 wurde er jedoch trotz laufenden Asylantrags in ein Abschiebegefängnis nahe Moskau gesteckt. Noch während der Urteilsverkündung im Gerichtssaal versuchte er Berichten zufolge, sich mit einem Kugelschreiber die Adern aufzuschlitzen. Er wusste, dass ihn in Usbekistan der sichere Tod erwartet.
In New York saugt Adam jede Information auf, die er über Ali und die anderen Gefangen bekommt. "Einige seiner Tagebücher wurden aus dem Gefängnis geschmuggelt", sagt er. Die Mitglieder von Voices4 haben sie vervielfältigt, in Bars verteilt und Spenden für Alis Familie gesammelt. "Zwischenzeitig wusste ich nicht, ob er noch lebt", sagt Adam. Anfang 2018 dann der Wendepunkt: Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschließt per Eilverfahren, dass Ali nicht in seine Heimat zurückgeschickt werden dürfe. Stattdessen gewährt man ihm die Einreise nach Deutschland.
Als Adam in New York von dieser guten Nachricht erfährt, überkommt ihn ein Gefühl der Erleichterung: "Wir haben es geschafft und waren trotzdem noch nicht fertig." Ein Jahr später reist Adam nach Berlin, um beim Radical Queer March mit Ali und Hunderten von anderen für die Rechte von Homosexuellen weltweit zu demonstrieren. Am Tag der Parade verteilt er pinke Kippot, die ihm seine Mutter mittlerweile kistenweise besorgt, um seine Mission zu unterstützen.
Seine Organisation Voices4 hat Adam mittlerweile auch nach Berlin gebracht. So will er in Deutschland eine Anlaufstelle für Gleichgesinnte oder Flüchtlinge bieten, die aufgrund ihrer Homosexualität in ihrer Heimat bedroht sind und in Deutschland ein neues Zuhause finden.
Anlaufstelle für verfolgte Homosexuelle
Und das sind nicht wenige, denn: Laut Zahlen der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) gibt es weltweit nur in etwa einem Drittel der Staaten Gesetze, die Lesben, Schwule oder Transsexuelle umfassend vor Diskriminierung schützen. In einem anderen Drittel der Staaten werden einvernehmliche homosexuelle Handlungen sogar als Verbrechen eingestuft. In elf Staaten, darunter der Iran, Saudi-Arabien, Jemen und Pakistan, droht nach Angaben der ILGA sogar die Todesstrafe. Laut der Organisation leben Homosexuelle besonders gefährlich in Ländern, in denen der Islam oder andere Religionen einen sehr großen Einfluss auf die Politik haben.
Adam möchte die Homosexuellen in diesen Ländern unterstützen und ihnen das Selbstverständnis vermitteln, für das er selbst lange mit sich ringen musste: "Du kannst schwul und religiös sein. Jeder, der dir etwas anderes einreden will, liegt falsch."