Noch ein Schluck, und die Flasche ist leer, ein Liter Wodka-Lemon, ausgetrunken von zwei 16-jährigen Schülerinnen auf der S-Bahnfahrt zum Stuttgarter Frühlingsfest. Beide hocken zwischen Scharen von Jugendlichen, die sich alle beeilen, ihre Flaschen zu leeren. Vorglühen nennen sie das, denn sie wissen, dass mitgebrachte Getränke auf dem Wasen verboten sind und der Sicherheitsdienst ihre Taschen kontrollieren wird.
Am Bad Canstatter Bahnhof mischen sich die Schüler mit Fußballfans, Familien und Touristen. Stimmengewirr und Grölen: "Olé olé ola - wir sind immer für dich da. Oooooohhh, VfB Stuttgart!" Vorbei an einem Spalier berittener Polizei schiebt sich die Masse zur Unterführung. Dahinter dreht sich das Riesenrad, zwischen kirchturmhohen Kettenkarussells, Todesbahnen und Bierzelten blinken unzählige Buden hektisch in allen Farben. Die Bässe wummern, es riecht nach Bratwurst und Popcorn. Zwei Obdachlose flankieren die Treppe zur Unterführung. Sie haben sich mit fast mannsgroßen Abfalltonnen ausgerüstet. Hastig leeren ein paar Teenager ihre Flaschen, bevor die Männer sie in den Tonnen verstauen. "Gut gemacht", krächzt einer der Flaschensammler und streckt die breiten Hände den nächsten Pfandflaschen entgegen.
Grinsen und ins Röhrchen pusten
"Wir haben nichts gegen diese Leute, schließlich ersparen sie uns eine Menge Müll", sagt Oberkommissar Lars Gmünder. Das Polizeirevier wird nur zweimal im Jahr genutzt, wenn Polizei und Rotes Kreuz den langen, weiß gefliesten Flachdachbau zwischen Wasen und Schleyerhalle zum Herbst- und Frühlingsfest beziehen. Gmünder ist Anfang dreißig, leicht gebräunt und hat lebhafte, freundliche Augen. Er nimmt seine randlose Brille ab und schaut aus dem Fenster.
"Das Vorglühen ist natürlich schon ein Problem. Die Maß ist so teuer geworden, dass viele Jugendliche angetrunken zum Fest kommen." Draußen fährt ein Wagen vor. Zwei Jungen mit David Beckham-Irokesenschnitt werden hereingeführt. Drei Beamte springen auf und postieren sich in einer Reihe hinter dem Tresen.
"Da aufs Bänkle", sagt eine junge Polizistin unwirsch. Sie holt eine Digitalkamera hervor und fotografiert die breit grinsenden Jungen. "Wie alt?", ruft einer hinterm Tresen.
"Rechts sechzehn, links fünfzehn."
"Ich bin der Arschfickmann, das is der Arschficksong" - das Handy des einen Jungen meldet sich zu Wort. "Kann ich rangehen?"
"Nein, hier ist Handyverbot." Der Junge starrt eine Weile ungläubig auf sein Handy, schaltet es dann aber aus.
"Habt ihr das schon mal gesehen?" fragt die Polizistin und hält den beiden ein Promillemessgerät vor die Nase. Die Jungs grinsen noch mehr. Der rechte pustet, während die Polizistin ein neues Gerät aus der Zellophanhülle befreit. "Ich brauche kein neues, das ist mein Bruder", ruft der linke.
Der andere ist fertig mit Pusten. "Hör auf, Alter, du bist nicht mein Bruder." Das Gerät zeigt 1, 5 Promille an, beim anderen sind es 1,8.
Wenn die Kinder zusammenbrechen, sind die Eltern richtig sauer
"Wir machen keine gezielten Kontrollen bei den Jugendlichen", erzählt Gmünder später. "Die beiden Jungs hier waren in einem Bierzelt und haben Randale gemacht. Der Wirt hat uns gerufen." Weil die beiden noch minderjährig sind, schaltet die Polizei das Jugendamt ein. Später werden ihre Eltern sie dann abholen. "Das zeigt am meisten Wirkung", glaubt Gmünder. "Wenn die Eltern mitten in der Nacht einen Anruf kriegen und manchmal noch 150 Kilometer fahren müssen, um ihre Kinder abzuholen, dann sind sie richtig sauer." Genervt ist er nicht, ständig wegen betrunkener Halbstarker ausrücken zu müssen. "Drum sind wir ja da."
Lars Gmünder hat beobachtet, dass die Sauferei seit einigen Jahren zunimmt, vor allem bei den Mädchen. "Wir haben auch mal ein Bier getrunken in dem Alter. Aber sich systematisch vor dem Fest zu betrinken, das gab es bei uns nicht." Er setzt die Brille auf und nimmt sie gleich darauf wieder ab. Eines weiß er sicher: "Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit meine Tochter nicht irgendwann mit anderthalb Promille irgendwo aufgegabelt wird."
Hundert Meter weiter am anderen Ende des Gebäudes bemüht sich Frederik Bronner vom Roten Kreuz um eine Reaktion seiner neuen Patientin - vergeblich. In dem gekachelten Raum riecht es nach Desinfektionsmitteln und Erbrochenem. Vor ein paar Minuten haben Sanitäter die blonde junge Frau in den "Frauen-Ruheraum" des Roten Kreuz getragen. Sie war auf der Toilette eines Bierzelts zusammengebrochen. "Drei, vier Maß hat sie getrunken und ein paar Wodka. Das sagt jedenfalls ihre Freundin", berichtet Bronner. Der schmächtige Rettungssanitäter schiebt dem Mädchen, das auf der Seite liegt, eine Pappschale unter das Gesicht. Als sie sich übergibt, hält ihr eine Krankenschwester den Kopf und streicht die blonden Haare zurück. Kein Anflug von Ekel ist in ihrem Gesicht erkennbar, sie redet beruhigend auf das Mädchen ein. "Die Patientin ist zweiundzwanzig. Damit gehört sie schon zu den Älteren", sagt der Sanitäter.
Sie trinken nicht mehr, sie sind nur jünger geworden
Bisher ist der Tag ruhig verlaufen. Nur ein anderer Patient ist noch da, er liegt seit einer Stunde im "Herren-Ruheraum". Er ist 16 und hat ebenfalls eine Pappschale unter sich. Neben ihm sitzt ein Krankenpfleger und wechselt sie in regelmäßigen Abständen aus. Mit der Ruhe kann es aber schnell vorbei sein, das weiß Bronner aus den vergangenen Jahren: "Beim Herbstfest haben die Liegen im Frauenraum nicht mehr ausgereicht." Deshalb mussten sie den Männerraum mit einem Vorhang abteilen und dahinter die Frauen unterbringen. Trotzdem glaubt Bronner nicht, dass die Jugendlichen heute mehr trinken als früher. "Sie sind nur jünger geworden. Wir kriegen ja hier schon Dreizehn- und Vierzehnjährige rein."
Mittlerweile sind die Eltern des Jungen eingetroffen, doch ihr Sohn scheint noch nicht transportfähig zu sein. "Wie viel Promille hat er denn?" fragt der Vater. "Das messen wir nicht; das macht nur die Polizei", erklärt Bronner. Die Eltern sehen sich ratlos um. Schließlich sagt der Vater: "Gehen wir noch eine Runde über den Wasen, was, Erika?" In diesem Moment versucht der Sohn, aufzustehen. Sein Blick verschwimmt, ins käsige Gesicht hat sich die Kontur der Kotzschale eingedrückt. Von Vater und Krankenpfleger gestützt wankt er Richtung Ausgang. Die Mutter greift nach ihrer Handtasche. Im Hinausgehen sagt sie: "Es tut mir leid, dass Sie mit so was Ihre Zeit verplempern müssen. Meinem Sohn tät's jedenfalls gut, wenn er noch ein paar Tage leiden müsste."