Am 6.Dezember 1801 schnallte sich Johann Gottfried Seume im sächsischen Grimma einen Tornister aus Seehundfell um und brach zu einem Spaziergang auf. Neun Monate später, im August 1802, kehrte er zurück; rund 6000 Kilometer ist er bis nach Sizilien und wieder zurück gegangen. Bis heute, knapp 220 Jahre nach dem Erscheinen des Klassikers "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, tobt der Streit: Bis wann ist es ein Spaziergang, ab wann eine Wanderung, und was zum Teufel ist eigentlich Trekking?
Spazierengehen – mit neuen Augen
Die Frage stellt sich in Corona-Zeiten, da wir alle Spaziergeh-Experten geworden sind, umso dringlicher. Ein Twitter- User fragte neulich zu Recht: "Wird Spazierengehen 2022 olympisch?“ Spazieren ist die einzige halbwegs legale Kombination von körperlicher Betätigung und gesellschaftlichem Kontakt; in der engeren Auswahl zum Wort des Jahres 2021 wird deshalb garantiert "Spazierdate“ landen. Sich gemeinsam mit haushaltsfremden Individuen zu bewegen und zu bereden, wo sonst geht das noch? Inzwischen schmiegt sich eine eigene Subkultur um das Spazierengehen: Spotify bietet spezielle Spazierplaylists an, die Wissenschaft erweitert sich gerade um das Feld der Promenadologie, der Spaziergangsforschung.
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
2010 hat der Deutsche Wanderverband festgelegt, dass Wandern ist, wenn man länger als eine Stunde zu Fuß unterwegs ist. Das ist für Spaziergeh-Ultras wie mich, die täglich zwischen zwei und vier Stunden gehen (1. Hund, 2. Schreibtischflucht im End- stadium), natürlich ein Witz. Meine De- finition von Wandern ist: gehen plus Planung (Karte 1:25000, penibel ausgearbeitete Streckenführung, Etappenziele, Aussichtspunkte), Equipment (Goretex, Carbon, Seehundfell) und Verpflegung (Klappstulle, hartes Ei, Müsliriegel). All das braucht der Spaziergänger nicht, der geht mit leichtem Gepäck, nämlich in der Regel gar keinem. Bestenfalls eine kleine Thermoskanne stecke ich gelegentlich in die Jackentasche, ich habe sogar zwei: eine für Tee auf der Parkbank, eine für eisgekühlten Weißwein am Meer. Also doch etwas Ausrüstung.
Spazieren hat zahlreiche Facetten
Doch gehen ist nur der eine Teil der Unternehmung. Wichtiger ist der zweite Aspekt: sehen. Und das ist, man muss es zugeben, beim Spazierengehen schwieriger. Spazierwege sind oft repetitiv, die immer gleichen Gassistrecken von Tür zu Tür und zu altbekannten Ausflugszielen lassen einen im Lauf der Zeit nahezu erblinden für die Umgebung. Irgendwann beginnt man zu schlafwandeln, versunken in die eigenen Gedanken oder das Handy, leicht gelangweilt von der ewigen Wiederkehr derselben Hausecken. Deshalb ha- be ich gerade mit Vergnügen Alexandra Horowitz’ Buch "On Looking“ gelesen (zu Deutsch in klassischer Umständlichkeit: "Von der Kunst, die Welt mit anderen Augen zu sehen: Elf Spaziergänge und das Vergnügen der Aufmerksamkeit“).
Horowitz unternimmt Spaziergänge rund um ihr Wohnviertel in New York in Begleitung von elf Experten, darunter einem Geologen, einer Künstlerin, einem Wildtierforscher, einem Stadtsoziologen, einer blinden Frau, einem Sounddesigner, ihrem Kindergartenkind und ihrem Hund. Sie alle zeigen ihr, was sie bislang nie bemerkt hat. Plötzlich wird das Alltäglichste zur Sehenswürdigkeit.
"Spazieren“ stammt vom italienischen Verb "spaziare“, wörtlich übersetzt "sich räumlich ausdehnen“. Und in der Tat: Statt 50 Quadratmetern plötzlich 50000 oder 500000 zur Verfügung zu haben ist schon toll genug. Sich gleichzeitig auch in jeder anderen Hinsicht ausdehnen zu dürfen – geistig, seelisch, körperlich –, das ist das wahre Geschenk des Spazierengehens.
Wanderschuhe Test: Hier geht es zum Wanderschuhe Vergleich.