Heute Morgen war ich bei einer Wahlkampfveranstaltung von Robert Habeck, der gerade die schleswig-holsteinische Küste entlangtourt und in meiner Nachbarschaft haltmachte – perfekt, um mal kurz mit dem Hund vorbeizuschlendern und zuzuhören. Am Infostand fragte ich nach dem Wahlprogramm. Erschrockene Blicke. Nein, tue ihnen leid, hätten sie nicht, nur eine Kurzfassung als Faltblatt im Pixibuch-Format, ob das reiche? Sonst: Internet.
Zu Hause ging ich ins Netz und verstand sofort, warum man das Programm gar nicht erst eingepackt hatte: 271 Seiten ist es lang, allein zwölf gehen für das Stichwortregister von A wie Abrüstung bis Z wie Zivile Krisenprävention drauf. Das hätte ich tatsächlich nie gelesen, ebenso wenig wie die anderen Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien, die insgesamt – so hat es der „Spiegel“ gerade ausgerechnet – zwei Millionen Zeichen umfassen (diese Kolumne hat ungefähr 3500).
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
Da trifft es sich, dass ich zufällig gerade ein Buch des französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers Pierre Bayard lese: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ – ein Titel wie gemacht für Leute wie mich, die so gern toller wirken möchten, als sie sind. Also praktisch für jeden, wenn man’s recht bedenkt, denn bislang hat noch jede Generation lieber „Königs Erläuterungen“ als den „Wallenstein“ gelesen (nachvollziehbar) oder Lebensläufe aufgehübscht oder Haare gefärbt oder eine andere Abkürzung zur Perfektion genommen. Wir leben in einer Selbstoptimierungsdiktatur, erstes Gebot: Wie du bist, bist du nicht gut genug, also mach dich gefälligst besser.
Besser wirken dank gesundem Halbwissen
Pierre Bayard gibt ohne Umschweife zu, dass er in seinen Vorlesungen Werke zitiert, die er nie gelesen oder bestenfalls durchgeblättert hat, insbesondere die Achttausender der Literatur wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Joyce’ „Ulysses“ oder Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Völlig egal, findet er, denn es ist „meiner Erfahrung nach absolut möglich, ein spannendes Gespräch über ein ungelesenes Buch zu führen, auch und vielleicht erst recht mit jemandem, der es ebenfalls nicht gelesen hat“. Er lobt das Querlesen als kreativen „Akt des Herauspflückens“ und fragt zu Recht, ob ein Buch, das man gelesen und komplett vergessen hat und von dem man sogar vergessen hat, dass man es gelesen hat, überhaupt noch ein Buch ist, das man gelesen hat.
Expertise vorgaukeln hilft oftmals
Es geht, kurz gesagt, um ein Plädoyer für das Halbwahrgenommene, Halbverstandene, mit dem wir uns ohnehin durch die Welt bewegen. Wir reden über Parteien, ohne deren Programme zu kennen, über Corona-Strategien, ohne Epidemiologie studiert zu haben, über Fußball, ohne je auf dem Platz gestanden zu haben. Der Mut zur Lücke ist Überlebensstrategie. Bei nahezu allen Themen, über die wir reden und gelegentlich streiten, handelt es sich eher um Gewissheit als Wissen und am Ende auch nur um Glauben. Es geht einfach nicht anders. Ein Freund schwärmte mir gerade von der besten Currywurstbude Berlins vor – ernsthaft, du hast sie also alle durchgetestet? Wirklich alle? Eben.
Die Kunst, die eigene Unkenntnis zu kaschieren
Wie man also über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (oder Filme, die man nie gesehen hat, meine persönliche Spezialität)? Ganz einfach: persönlich, fantasievoll, assoziativ, spielerisch. Und so ehrlich wie möglich. Denn am Ende spricht man doch immer über sich selbst, den großen Resonanzraum für alles Halbgewusste, Missverstandene, nur Geahnte. Gut, sich klarzumachen, dass alle anderen genau dasselbe tun.