Man macht ja seltsame Sachen in diesen seltsamen Zeiten. Dinge, die man lange nicht oder noch nie getan hat, aus schierer Verzweiflung oder Ratlosigkeit oder dem dringenden Bedürfnis, irgendwas zu machen, egal was. Ich zum Beispiel bin neulich beim Spazierengehen auf einen Trimm-dich-Pfad aus den frühen Siebzigern gestoßen und habe zu meiner eigenen und zur Verblüffung meines Hundes begonnen zu… tja, wie nennt man das? Turnen?
Sport als ewig gleiches Ritual
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
IIch muss vorausschicken, dass ich wie nicht wenige meiner Generation ein ziemlich angespanntes Verhältnis zum Turnen habe. Genau so nämlich, als Turnen, stand es damals auf dem Stundenplan, man hatte einen Turnbeutel mit dünnsohligen Gymnastikschläppchen und ewig müffelnden Trikots, beides in lebensbejahendem Schwarz, anders gab es das nicht, wir hatten ja nichts damals nach dem Krieg. Turnhalle, das bedeutete für mich: schwere Matten, harte Bänke, ewig in Reihen anstehen, bis man mal über den Bock springen konnte, aufgeschürfte Knie, wenn man mal wieder gegen den Sprungkasten geknallt war, blaue Flecken an den Schulterblättern vom Hängen an der Sprossenwand. Nahezu alle Turnhallengeräte empfand ich als Folterinstrumente, nur zu einem Zweck erfunden: Demütigung. Ist je ein Kind zum Sportfan geworden, indem es vor aller Augen ein dickes Seil nicht hochkam, nach fünf Sekunden vom Schwebebalken fiel, mit schwitzigen Händen nassersackartig an Ringen hing? (Ich spreche hier von niemand Besonderem.) Wenn der Sportunterricht körperliche Koordination und Spaß an der Bewegung fördern soll, warum werden Sechstklässler mit Dingen wie Stufenbarren und Pauschenpferd gequält, Geräten also, an denen die meisten krachend scheitern müssen? Wenn ich mich recht entsinne, schafften aus meiner Klasse gerade mal zwei eine fehlerfreie Felge am Reck ohne Hilfestellung, und eine davon hat später Sport studiert.
Und dann natürlich Völkerball. Völkerball, das beschissenste Spiel der Welt, ein Vernichtungskrieg mit Ball als Waffe. Schon der Name klingt nach tiefstem 19. Jahrhundert, und selbst Turnvater Jahn lobte den wehrertüchtigenden Charakter: Es geht nicht etwa darum, gegeneinander zu spielen, sondern die anderen per Körpertreffer abzuschießen und rauszuschmeißen, zu meiner Zeit noch mit einem steinharten Lederball, heute mit einem Softball. Was die Sache nicht minder schmerzhaft macht, denn Mobbing ist quasi Teil der Spielregeln, immer geht es um Survival of the fittest. Was man dabei lernen soll, ist mir komplett schleierhaft: Du musst raus, wenn du es nicht kannst, und stehst dann am Rand. Wie soll man so besser werden?
Abgehakt!
Als ich von der Schule abging, habe ich mir jedenfalls geschworen: nie wieder Differenzialrechnung, nie wieder Massenwirkungsgrad und Katalyse, nie wieder Aufschwung am Stufenbarren. Erst Jahrzehnte später, als hinreichend Schorf über die Kindertraumata gewachsen war, entdeckte ich das Laufen und das Rudern, die Lust an der Bewegung, immer noch voll Grimm auf den Schulsport. Doch neulich auf dem Trimm-dich-Pfad dachte ich: Es ist Zeit. Zeit, der Sache eine zweite Chance zu geben und endlich all das zu lernen, was ich noch nie konnte. Vielleicht nicht die beste Idee mit 60, aber es ist ja nicht so, als ob ich gerade was Besseres zu tun hätte. Gerade habe ich nach Anleitung eines Youtube-Videos meine Handgelenke gekräftigt und mit einem Bademantelgürtel meine Schulterpartie gelockert, denn, meine Damen und Herren: Bis zum Ende dieses Jahres will ich einen Handstand können, und wenn es mir das Genick bricht.