Noch nie in meinem Leben habe ich einen Bundespräsidenten zitiert und hatte eigentlich nicht vor, damit auf die letzten Meter noch anzufangen. Aber dann hielt Frank-Walter Steinmeier neulich eine kleine Osteransprache, und ich dachte: Verdammt, der hat in dein Kolumnen-Notizbuch geguckt und war eine Woche schneller. Er sprach von der Neigung der Deutschen, sich selbst entweder hochzujubeln oder in die Tonne zu treten, von der nationalen Genugtuung, die erste Corona-Welle wie gewohnt strebermäßig tippitoppi absolviert zu haben, und von der genauso großen Lust an der Schwarzmalerei in diesen Tagen. „Ich frage mich“, so Steinmeier, „warum muss es in Deutschland eigentlich immer der Superlativ sein – himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt? Die Wahrheit ist: Wir sind nicht Pandemieweltmeister, wir sind aber auch nicht Totalversager.“ In der Tat, wir sind nicht dies, nicht das, nicht oben, nicht unten, sondern irgendwas dazwischen. Mittelmaß. Und das scheint für viele noch unerträglicher zu sein als das dieser Tage reflexartig beschworene Staatsversagen.
Das unscheinbare Mittelmaß wird oft übersehen
Mittelmaß zu sein, also auf einer der unzähligen Graustufen zwischen Schwarz und Weiß zu liegen, ist keine gute Geschichte. Nicht schlagzeilentauglich. Nicht mitteilungswürdig. Das kommt schlicht nicht vor, wie wir in Jahrzehnten des Nachrichtenkonsums gelernt haben, wenn es in der „Tagesschau“ mal wieder entweder um Triumphe oder Katastrophen ging, um Hitzewellen oder Schneestürme, um Champions League oder Abstiegsplätze. Schert sich irgendwer um den FC Augsburg oder den SC Freiburg? Hat es je einen Beitrag über einen 14 Grad warmen, leicht bewölkten Spätfrühlingstag gegeben? Schon klar, die Zeit ist knapp, die Aufmerksamkeit noch knapper. Aber wie kann es sein, dass die Welt nur noch in ihren Ausschlägen wahrgenommen wird, weil einem sonst die Birne platzt in der Informationsflut? Platzt sie einem auf diese Weise nicht umso schneller?
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
In meinem Notizbuch stand als Stichwort für diese Woche: „Extremismusgefahr“. Ich ertappe mich nämlich selbst ziemlich oft dabei, quasi per Werkseinstellung den Superlativ zu zücken, im Schreiben wie im Reden, im Denken wie im Fühlen. Ich finde Dinge leicht mal unglaublich toll, unfassbar dämlich, irrsinnig kompliziert, die es ganz sicher nicht sind. Sondern die bestenfalls ganz nett, etwas ärgerlich oder nicht auf Anhieb durchschaubar sind. Aber in einer Welt, in der ständig (<- Achtung, hemmungslose Übertreibung!) auf Maximallautstärke (<- das aber auch…) gesendet wird, in der mediale Wutanfälle wie jüngst der „Spiegel“-Titel („Schimpf und Schande – Die neue deutsche Unfähigkeit“) oder fluchgespickte Rezo-Tiraden auf Youtube den Ton bestimmen, dreht man vermutlich gern selbst ein bisschen am Regler. Sonst ginge es ja in 90 Prozent der Fälle um eine Graunuance, und Grau, bei aller Liebe, Grau ist derzeit einfach eine intellektuelle und seelische Zumutung.
Vielleicht doch lieber zum lauwarmen Grau?
Oder am Ende nicht vielleicht doch die Rettung? Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, wieder genauer zu werden in meinem Denken und Fühlen, in meiner Wahrnehmung und Bewertung des Wahrgenommenen – nicht zuletzt aus Erschöpfung. Ich komme einfach nicht mehr hinterher nach einem Jahr der emotionalen Achterbahnfahrten zwischen Angst, Hoffnung, Enttäuschung, Resignation, Empörung und Zorn, zwischen Aufbruchs- und Untergangsstimmung; ich bin es leid, in immer neue Extremlagen geschubst zu werden. Es muss auch mal kleiner gehen, halblang, hellgrau, meinetwegen nebelgrau. Mittelmaß eben, köstliches, erholsames und höchstwahrscheinlich wahres Mittelmaß.