Natürlich kann ich nicht alle neu aufgetretenen Psychomacken auf Corona schieben, das wäre zu einfach – aber hey, warum eigentlich nicht? Ich verdiene Einfachheit, wir alle tun es in diesen komplizierten Tagen, und deshalb: Ich glaube, es liegt am Lockdown, dass ich derzeit nichts mehr auf die Reihe kriege. Ich gucke in meinen Kalender, sehe eine Verabredung zum Spazierengehen in drei Stunden (der einzige Eintrag des Tages) und denke: Davor kann ich unmöglich irgendwas anfangen, ich hab ja was vor.
Ich kann keine Kolumne beginnen, kein neues Buch aufschlagen, nicht mal Pappkartons für den Papiermüll zerkleinern, ich habe schließlich nachher einen Termin. Auf den ich zwar nur warten kann, aber das ist schon aufreibend genug. Denn: Wann muss ich los? Viertelstunde vorher? Wie wird dann der Verkehr sein? Doch besser eine halbe Stunde vorher? Und außerdem muss ich mich ja vor dem Aufbrechen noch kämmen und die Schuhe anziehen, es lohnt sich also wirklich nicht, vorher irgendetwas anderes in Angriff zu nehmen.
Im Alter nimmt der Termindruck zu
Vielleicht ist auch nicht der Lockdown der Grund, sondern schlicht das Älterwerden. Beides bringt ja eine gewisse Ereignislosigkeit mit sich und die Neigung, übermäßig um Dinge zu kreisen, die irgendeine Form von Ereignis darstellen, wie läppisch auch immer, aber man ist ja über alles froh. Mittagessen. Spaziergang. Zahnarzttermin. Dinge, die früher, in der Zeit v. C., nicht weiter der Rede wert waren, jetzt aber wie Hackklößchen aus dem Einheitsbrei der Tage ragen. Es gibt Tage, an denen ich es schon als Spitzenleistung des Zeitmanagements betrachte, die Mülltonne rausgestellt und rechtzeitig die "Tagesschau“ eingeschaltet zu haben.
Was ist da los? Wieso fühlen sich selbst Leute, die früher im Halbstundenrhythmus durchgetaktet waren, überfordert von einem einzigen Termin, an den das Hirn sich den ganzen Tag krallt? Lässt Lockdown einen rapide altern? Gibt es präsenile Lockdownitis? Warum fühle ich mich gerade wie meine 88-jährige Mutter, die in den Wochen vor einem Augenarzt- oder Fußpflegetermin immer wieder nervös ihren Taschenkalender konsultiert, um bloß nicht den Tag zu verpassen? Unnötig zu sagen, dass an solchen Tagen andere Verabredungen undenkbar sind, auch wenn der Termin selbst maximal eine Stunde in Anspruch nimmt. Ich lache schon lange nicht mehr darüber.
Bitte ziehen Sie eine Nummer zur Überforderung
Das Warten darauf, dass irgendwas passiert, das man nicht selbst in der Hand hat – eine bestimmte Inzidenz, ein Impftermin, ein Lockerungsversprechen, eine nächste Welle –, erinnert mich in seiner stumpfen Ohnmacht an die Hallen großer Behörden, in denen man starr die Anzeigetafel fixiert, um bloß den Moment nicht zu verpassen, wenn der Raum angezeigt wird, den man jetzt mit Wartenummer 387 betreten darf. Man könnte auch ein Buch lesen, mit den Nachbarn plaudern, sich die Zeit irgendwie schön machen, aber nein: Man starrt auf die Anzeigetafel. Bis es endlich, endlich klackert.
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
Wie kommt man aus diesem Wartezimmer-Modus wieder heraus? Ich habe allen Ernstes begonnen, mir in einem Akt der Rekonvaleszenz hundsnormales Zeug in den Kalender einzutragen. Einfach, um in die Gänge zu kommen und den Kaninchen-vor-Schlange-Zustand aufzulösen. 9.00 bis 10.00 Uhr: Gassi. 10.00 Uhr: E-Mails beantworten. 10.30 bis 11.30 Uhr: Terrasse von Algenbelag säubern. 11.30 Uhr: Doch noch endlich die Kolumne anfangen. Aber wie wird es sein, wenn wieder echte Termine in der Welt da draußen dazukommen, Lesungen, Konzerte, Reisen? Gibt es für solche schweren Fälle ein Resozialisierungsprogramm? Ich glaube, ich muss mich erst mal wieder hinlegen.