In Handschellen wird der 39-jährige Pflegehelfer Manuel W. aus der Untersuchungshaft in den Gerichtssaal geführt. Er trägt einen kleinen Kinnbart, Turnschuhe, eine dunkelgrüne Kapuzenjacke. Zusammengekauert sitzt er auf der Anklagebank, kann seine Beine und seine Hände kaum ruhig halten. Nur selten hebt er den Blick.
Das Interesse der Medien war groß, als kürzlich der Prozess vor dem Landgericht Bremen gegen ihn begann. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Pflegehelfer versuchten Mord vorgeworfen. Manuel W. hatte gegenüber der Polizei eingeräumt, zwei Bewohnerinnen eines diakonischen Pflegeheims im März 2019 Insulin gespritzt haben – ohne medizinische Notwendigkeit. Mittlerweile sind mindestens drei weitere Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
In der Presse wurde Manuel W. schon mit Niels Högel verglichen. Der Krankenpfleger hatte über mehrere Jahre in Oldenburg und Delmenhorst Patienten ermordet. Er stand unter Verdacht, über 300 Menschen getötet zu haben. Wegen 85 Morden wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt – es war eine der größten Mordserien in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte.
Wegsehen und schweigen
Manuel W. scheint – nach derzeitigen Stand der Ermittlungen – keinen Menschen getötet zu haben. Er rief selbst den Sanitäter, nachdem er Insulin gespritzt hatte. Deshalb sieht die Staatsanwaltschaft keinen Tötungsvorsatz mehr. Manuel W. ist "nur noch" wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Trotzdem verrät der Prozess viel über die Zustände und die Personalnot in deutschen Pflegeheimen. Und davon, wie Vorgesetzte noch immer wegsehen und schweigen, wenn verdächtige Dinge geschehen.
Stück für Stück rekonstruiert das Gericht, was im März 2019 in einem Bremer Pflegeheim passiert ist: Das Heim war relativ neu, 2006 eröffnet, hatte 89 Betten. Eine der Menschen, die in dem Heim betreut wurden, war Frau K. Sie hatte mehrere Schlaganfälle hinter sich, war nicht zuckerkrank, bekam kein Insulin. Am jenem Samstagmorgen Ende März sank ihr Blutzuckerspiegel gegen 10 Uhr plötzlich bedenklich. Pflegehelfer Manuel W. führte einen Blutzuckertest durch. Die Werte waren auf 35 Milligramm pro Deziliter abgesunken. Normal sind Werte von 70 bis 120. Manuel W. rief den ausgebildeten Pfleger. Sie alarmierten den Notarzt. "Habt Ihr der Frau Insulin gegeben? Dieser Wert ist nicht möglich, ohne dass jemand Insulin gespritzt hat", habe er sofort nach seiner Ankunft gefragt, erzählt der Notarzt nun vor Gericht. Der Pfleger habe dies verneint. Frau K. wurde ins Krankenhaus gebracht. Zwei Tage lang schwebte sie in Lebensgefahr, konnte aber gerettet werden.
"Mein erster Gedanke war, dass die Bewohner verwechselt wurden. Wir sind ja nur Menschen", sagt die Pflegedienstleiterin vor Gericht. Sie hatte an dem fraglichen Wochenende keinen Dienst. Am Montag erfuhr sie, was vorgefallen war. Und auch davon, dass in den vorhergehenden Tagen wiederholt Insulin verschwunden war. "Haben Sie was unternommen wegen des fehlenden Insulins?", will der Vorsitzende Richter wissen. "Erst mal nichts", antwortet sie. Einen Tag später fand sie einen benutzten Insulin-Stift auf dem Nachtschrank im Zimmer der Patientin. Noch immer unternahm sie nichts, warf den Stift einfach in den Müll. Später sei ihr das Ganze "komisch" vorgekommen. Manuel W. habe sich immer so abfällig über Kollegen geäußert.
Erst Krankenhaus schlägt Alarm
Sie war nicht die einzige Mitarbeiterin, die verdächtige Beobachtungen gemacht hatte. Ein examinierter Krankenpfleger, der im Nachtdienst arbeitete, hatte schon früher wiederholt bemerkt, dass Insulin fehlte. Doch erst nach dem Vorfall mit Frau K. sorgte er dafür, dass das Insulin weggeschlossen wurde. Auch der Leiter des Pflegeheims wollte erstmal die Stellungnahmen seiner Mitarbeiter abwarten. Es war das Krankenhaus, das Alarm schlug und gegenüber der Polizei den Verdacht äußerte, der 75-jährigen Frau K. sei Insulin gespritzt worden.
Manuel W. hatte erst kurz vorher, im Januar 2019, im Pflegeheim angefangen. Es war nicht sein erster Job in einer solchen Einrichtung gewesen. Über eine Zeitarbeitsfirma hatte er schon in mehr als 30 Einrichtungen gearbeitet.
Manuel W. schweigt vor Gericht. Nach Lektüre der Ermittlungsakten würde ihr Mandant möglicherweise aussagen, hatte seine Verteidigerin angekündigt. Doch nun, nachdem er die Akte gelesen hat, schweigt Manuel W. weiter. Bei der Polizei hatte der Pflegehelfer noch ausgesagt, er habe die Bewohnerinnen in eine Notlage gebracht, um sie anschließend retten zu können. Aufmerksamkeit und Anerkennung habe er sich dafür erhofft. So war es bei Niels Högel gewesen. Da Manuel W. aber selbst noch Hilfe gerufen hatte, wertet die Staatsanwaltschaft sein Verhalten nicht als Mordversuch. Die zweite Frau war nicht in Lebensgefahr geraten. Im Gericht sitzt eine Gutachterin, die Manuel W. beobachtet und eine Einschätzung dazu abgeben soll, ob er schuldfähig ist.

Eine einfache Google-Recherche reicht, um das Problem offenbar zu machen: Pflegehelfer werden gesucht, überall und dringend. In der Anzeige eines überregional tätigen Unternehmens, dessen Anzeige ganz oben steht, heißt es: "Pflegehelfer ohne Ausbildung - 14 Tage arbeiten, 14 Tage frei". Und: "Endlich arbeiten ohne Zeitdruck."
Der Prozess wird fortgesetzt, das Urteil im Frühjahr 2020 erwartet. Bei einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung drohen Manuel W. bis zu zehn Jahre Haft.