"Icke muss vor Jericht" Pippi Langstrumpf verspricht Besserung

  • von Uta Eisenhardt
Mit Ringelstrumpfhosen und rotkarierten Pumps sorgt Karin Sander im Berliner Kriminalgericht für Schmunzeln. Über 18 Mal Schwarzfahren und geklaute Apfelsinen täuscht das jedoch nicht hinweg. Der dritte Teil der stern.de-Gerichtskolumne Kolumne "Icke muss vor Jericht".

Bepackt mit Taschen und Tüten fegt die 21-jährige Karin Sander* um die Ecke in den Wartesaal des Berliner Kriminalgerichts. Mit einem lauten, fröhlichen "Hallo" begrüßt sie ihren aus Österreich angereisten Großvater. Vor sechs Jahren wurde die 21-Jährige zum Waisenkind, fast wie Pippi Langstrumpf. Und ebenso wie diese ist sie ein Hingucker, der sich bunt von ihrer grauen Umgebung absetzt. Eine Lolita mit Unterlippen-Piercing und kurzem Jeans-Minirock, deren pink geringelte Beine in rotkarierten Pumps stecken. Eine lila Kette und gleichfarbige Armreifen aus Plastik runden das schrille, aber durchaus stimmige Outfit ab.

Nur das Batik-Kopftuch, unter dem sie ihre schwarzen Haare versteckt, steht im Kontrast zur Lebensfreude, die ihre übrige Kleidung behauptet. Das dünne Mädchen scheint schon viel erlebt zu haben. Wenn sie spricht, zieht in ihr noch kindliches Gesicht schnell und oft jene Härte ein, die Menschen bekommen, wenn ihnen im Leben nur wenig geschenkt wird.

Uta Eisenhardt

Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin. In der stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.

Karin Sander wird in den Verhandlungssaal gerufen. Hier grüßt sie wieder mit ihrem weltumarmenden, offenherzigen "Hallo". Wohlwollend-amüsiert grüßt der junge Amtsrichter zurück, die Protokollantin an seiner Seite taxiert den Paradiesvogel mit Skepsis. "Sie grinsen so vor sich hin", sagt der Richter, als die junge Frau vor ihm sitzt. "Das ist nicht böse gemeint", entgegnet Karin Sander. Er sei ihr nicht böse, versichert der Richter. Es klingt väterlich.

18 Mal beim Schwarzfahren erwischt

Innerhalb von sechs Wochen ist die junge Frau 18 Mal ohne Fahrschein in der U-Bahn erwischt worden, an einem Tag geriet sie gleich zweimal in die Fänge der Kontrolleure. Im "Kaufland" hat sie noch Apfelsinen und Bananen für knapp fünf Euro gestohlen. Dabei stapelten sich im Bundeszentralregister unter ihrem Namen bereits sechs Eintragungen wegen Diebstahls und Leistungserschleichung. Als eine "Kriminalität am untersten Level" bezeichnet es die Staatsanwältin. Weil es bei Karin Sander immer noch nicht "gehakt" hat, saß sie wegen fortgesetzter Bagatelldelikte im vergangenen Sommer im Gefängnis.

Doch warum wurde sie gleich nach der Haftentlassung wieder straffällig? "Ich wohnte damals im Obdachlosenheim und habe keine Unterstützung vom Job-Center bekommen, der Antrag hat länger gedauert", erzählt die Angeklagte mit ihrer mädchenhaften Stimme. "Deshalb bin ich auch schwarz gefahren, weil ich jeden Tag zum Amt musste."

Das erhöhte Beförderungsentgelt bei den Berliner Verkehrsbetrieben hat sie bereits bezahlt - das heißt, eigentlich war es ihr Großvater, der die 500 Euro entrichtete. "Der Diebstahl ist auch bezahlt, oder?", sagt sie und dreht ihren Kopf in Richtung Zuschauer, wo der schwerhörige, aber rüstige Mann der Verhandlung folgt. Einhundert Euro sollte sie damals an "Kaufland" zahlen, dann wollte das Unternehmen von einer Strafanzeige absehen. Opa wollte und will immer noch das Geld an seine diebische Enkelin überweisen, beteuert er im Gerichtssaal. Doch im Briefumschlag käme es abhanden und die Kontoüberweisung scheiterte bislang an Karins Schulden: Ihr Konto befindet sich fest im Griff von Gläubigern.

Sie will wieder stabiler leben

Doch Sander hat inzwischen einen Plan für ihr Leben geschmiedet. Sie sei zurück an ihren Geburtsort Gießen gezogen: "Ich wollte etwas stabiler leben." Dort hat sie eine Bewährungshelferin, mit der komme sie gut klar. Im Sommer will sie einen Lehrgang zur Schwesternhelferin beginnen und im Herbst eine Ausbildung zur Köchin. Sie möchte nie wieder Schulden bei den Berliner Verkehrsbetrieben haben, sagt sie. "Ich bin froh, dass ich endlich einen Job gefunden habe, dass ich mir etwas aufbauen kann, damit ich irgendwann eine Familie gründen kann."

150 Tagessätze zu je zehn Euro Geldstrafe fordert die Staatsanwältin als Konsequenz, die Verteidigerin bittet um etwas weniger, das würde ihrer Mandantin "nur wieder Knüppel in den Weg stellen". Während der Richter in seinem Hinterzimmer noch über die Höhe der Strafe sinniert, rät sie ihrer Mandantin "Gehen Sie am Wochenende ein bisschen malochen. Vielleicht lernen Sie dort den Mann ihres Lebens kennen!" Die Staatsanwältin setzt hinzu: "Seien Sie froh, dass Sie so einen netten Opa haben!" Der so Gelobte sagt: "Schuld ist ja der deutsche Staat. Der soll seine Arbeitslosen versorgen, so wie wir das in Österreich machen. Sonst werden die in die Kriminalität gedrängt."

Ein Vierteljahr arbeiten

120 Tagessätze zu zehn Euro verhängt der junge Amtsrichter als Strafe. "Wegen der Rückzahlung wenden Sie sich an die Vollstreckungsabteilung mit der Bitte um Ratenzahlung, Abarbeitung oder" - und an dieser Stelle lächelt er - "Sie fragen Ihren Großvater!"

Ein Vierteljahr muss die junge Frau arbeiten, allerdings nicht Vollzeit, sagt ihre Verteidigerin nachdem die Sitzung beendet wurde. Das würde sie schaffen, sagt Sander: "Abwechslung schadet nicht". Ihr Opa mahnt: "Vor allem, verlass nicht Gießen!"

Dorthin will Karin nach der Verhandlung auch wieder zurück, ihr Großvater wird den Nachtzug nehmen: "Da können wir ja ein Stück zusammen fahren", sagt sie und geht mit Opa noch einen Kaffee trinken.

*Name geändert

PRODUKTE & TIPPS