Es war der 2. Dezember 1983 - ein Datum, das Eleanor Williams bis heute verfolgt. Die 18-Jährige war müde. Schon vor Sonnenaufgang war sie aufgestanden, um alles für die Reise vorzubereiten und rechtzeitig den Bus zu erreichen. Die junge Mutter war noch nie weiter als 30 Meilen von ihrer elterlichen Farm im Südwesten Virginias weg gewesen. Das sollte sich ändern. Mit ihrer dreieinhalbjährigen Tochter April wollte sie nach Kansas fahren und ihren dortigen Brieffreund besuchen. Kevin. Mit ihm schrieb sie sich seit ihrer Schwangerschaft. Nun wollte sie ihn endlich kennenlernen.
Zwischenstopp in Washington. 1200 Meilen auf dem Highway lagen noch vor ihr. Müde und voll beladen mit Wickeltasche und Gepäck saß sie mit April in der Wartehalle des Washingtoner Busterminals. Noch drei Stunden, dann würde es weiter gehen.
Eleanor Williams gab ihr Baby einer fremden Frau
Plötzlich habe sich eine Frau neben sie gesetzt, erinnert sich die heute 52-Jährige in der "Washington Post". Sie habe angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie habe sich als Latoya vorgestellt. Ob das wirklich stimmt? Wer weiß das schon. Latoya schien sehr interessiert an dem jungen Mutter-Tochter-Gespann, fragte viel. Wo sie hin führen, wie alt ihr Baby sei. "Sie war sehr freundlich", erinnert sich Eleanor Williams. Latoya habe mit Baby April geflirtet. Nach einer Weile habe sie gefragt, ob sie das kleine Mädchen nicht mal auf den Arm nehmen dürfte. "Bitte. Nur für eine Minute."
Die Frau hielt April im Arm. Plötzlich meinte sie, das kleine Mädchen benötige eine frische Windel. Williams wollte sie zurücknehmen. "Ich mach das schon. Du siehst so müde aus", erinnert sich Williams an die letzten Momente mit ihrer Tochter. Sie sei zwar skeptisch gewesen aber eben auch müde - und furchtbar naiv. Sie gab ihr Okay. Als die Frau mit April auch nach zehn Minuten nicht wieder da war, sei sie nervös geworden. Bis heute hat sie ihre Tochter nicht wiedergesehen.
"Es gab Zeiten, da wollte ich mir das Leben nehmen"
"Ich mache mir jede Sekunde meines Lebens Vorwürfe - auch jetzt gerade", sagt sie der "Washington Post". "Ich denke immer daran: Wie konnte ich bloß so dumm sein? Warum? Warum hast du das gemacht?"
Überwachungskameras, wie sie heute an jedem Busterminal angebracht sind, gab es damals noch nicht. Latoya ist ein Geist. Es gibt keine Bilder von ihr, keine sonstigen Aufzeichnungen. Eleanor Williams hatte anfangs sogar Probleme, die Polizei davon zu überzeugen, dass ihre Tochter entführt worden war.
Entführtes Baby: Eleanor Williams hofft weiter
Nach April hat Williams noch zwei weitere Kinder bekommen. Einen Jungen und ein Mädchen. Sie stehen ihr sehr nahe. "Es gab Zeiten, da wollte ich mir das Leben nehmen. Ich habe mich schlecht und so schuldig gefühlt." Ihre Kinder hätten ihr aber die Stärke gegeben, weiterzumachen.
Die Erinnerungen an die Zeit vor 34 Jahren behält sie meist für sich. Zu schwer wiegen Schuld und Scham. Auch heute noch fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Vor ein paar Wochen riet ihr ein Kriminalbeamter, sich mit ihrer Geschichte an die Medien zu wenden. Öffentlichkeit sei gut für "Cold Cases", habe er gesagt. Vielleicht gäbe es ja so neue Hinweise auf die kleine April, die mittlerweile eine gestandene Frau sein dürfte. Eleanor Williams gibt die Hoffnung nicht auf, ihre Tochter vielleicht doch eines Tages zu finden. Das letzte Mal, als sie ihre Geschichte erzählte, war am Tag nach Aprils Verschwinden.
Die Wunden heilen nicht
Die Monate nach dem Verschwinden ihres Babys seien schrecklich gewesen, erzählt sie. Sie sei zurück auf die Farm nach Virginia gegangen, hätte es dort aber nicht lange ausgehalten. Zu oft wurde sie angestarrt. Die Menschen tuschelten hinter ihrem Rücken "Die hat ihr Baby einfach so weggegeben" oder "Die war einfach noch zu jung für ein Kind". Williams floh zu ihrem Brieffreund Kevin. "Eigentlich wollte ich von ihm nur ein neues Baby, um April zu ersetzen", sagt sie heute. Sie habe geglaubt, dass dann alles besser werden würde, dass der Schmerz nachlassen würde. "Am Ende tat es noch mehr weh."
Ihre zweite Tochter kam schon im drauf folgenden September zur Welt. Also zehn Monate nach dem Unglück. Ihr Sohn zwei Jahre später. Die beiden wissen, dass sie ihre Mutter am 17. August alleine lassen müssen, an Aprils Geburtstag. "Das ist unser beider Tag. Ich sitze einfach nur da, schaue ihr Foto an, weine und stelle mir vor, wie es ihr wohl heute geht."
