Hanna studiert Medizin in Rumänien. Die 23-Jährige zieht es immer mal wieder in ihre Heimat, den beschaulichen Ort Aschau im Chiemgau. Den Abend des 2. Oktober 2022 verbringt sie mit Freundinnen im Eiskeller, einem beliebten Club, der Feierwütige aus der gesamten Region anzieht.
Um kurz nach zwei Uhr verlässt Hanna zusammen mit zwei ihrer Freundinnen die Disko, möchte die rund 900 Meter zu ihrem Elternhaus zu Fuß gehen. Die beiden anderen Mädchen fahren Auto. Hanna hat 2,06 Promille im Blut.
In dieser Nacht verschwindet die junge Medizinstudentin, wacht nicht in ihrem Bett auf. Wenige Stunden später wird ihr Leichnam aus dem Fluss Prien geborgen, zwölf Kilometer entfernt. Am Kopf hat sie Verletzungen, Teile ihrer Kleidung fehlen. Was ist in jener Nacht passiert?
Mutmaßlicher Täter ist schnell gefasst
Der mutmaßliche Täter scheint schnell festzustehen: Sebastian T. ist in jener Nacht durch Aschau gejoggt, wie so oft. Es gibt keine konkreten Beweise gegen ihn, aber Hinweise. Ein Indizienprozess startet.
Der inzwischen 23-Jährige aus Aschau wird im März 2024 wegen Mordes aus sexuellen Motiven und gefährlicher Körperverletzung zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt. Der sexuell unerfahrene Mann soll von Lust getrieben gewesen sein. Er soll Hanna mit einem Stein niedergeschlagen haben, um sich an ihr vergehen zu können. Zur Sexualtat soll es nicht gekommen sein, er soll die junge Frau aber in die Prien geworfen haben, wo sie ertrank.
Der Fall erregt deutschlandweit Aufsehen als "Eiskeller-Mord".
Sebastian T. bleibt nicht lange in Haft. Im Juni 2025 hebt der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil des Landgerichts Traunstein auf – nach Revision des Angeklagten. Der BGH beruft sich auf einen Verfahrensfehler, den auch die Verteidigung im Prozess rügte.
Die zuständige Richterin tauschte Anfang Januar 2024 Mails mit dem Staatsanwalt aus über die rechtliche Würdigung von Erkenntnissen aus dem Prozess. Rechtliche Würdigung – ein sperriges Wort für die juristische Bewertung von Fakten oder Begriffen.
Jedoch ließ sie die Verteidigung darüber in Unwissen. Der BGH fand hierfür deutliche Worte: "Mit dem heimlichen Vorgehen konnte beim Angeklagten der Eindruck entstehen, dass die Vorsitzende sich nicht mehr unparteilich ihm gegenüber verhielt."
"Eiskeller-Mord": Sebastian T. darf wieder raus
Weil es dann auch noch Zweifel an der Aussage des Hauptbelastungszeugen gab, ist der 23-Jährige, der wie Hanna aus Aschau stammt, inzwischen sogar aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Seitdem lebt er in Freiheit bei seiner Familie, nicht weit von Hannas Eltern entfernt.
Der Hauptbelastungszeuge war ein Mitgefangener des Beschuldigten. Er sagte in der ersten Hauptverhandlung aus, dass der Beschuldigte ihm die Tat rund zehn Monate zuvor in der Untersuchungshaft gestanden habe. Doch die Sachverständigen erkennen bei dem Zeugen eine ausgeprägte Fähigkeit und Neigung zum Lügen – und das Gericht wertet seine Aussage nicht weiter als glaubwürdig.
Zweiter Prozess startet – der Angeklagte will schweigen
Jetzt wird der Fall nochmal aufgerollt. Der Angeklagte bestreitet nach Angaben seiner Verteidiger die Mordvorwürfe gegen ihn. Er wolle sich ansonsten aber "schweigend verteidigen", sagt sein Anwalt Yves Georg nach der Verlesung der Anklage am ersten Prozesstag. Den Gerichtssaal betritt Sebastian T. als freier Mann mit weißem Hemd und dunklem Sakko.
Er hat ja nichts getan
Auf den Bildern, die zahlreiche Fotografen von ihm machen, will er ausdrücklich nicht unkenntlich gemacht werden. "Er hat ja nichts getan", so seine Anwältin Regina Rick.
Sie begrüßt öffentlichkeitswirksam auch einen anderen Mandanten im Zuschauerraum des Gerichtssaals: Manfred Genditzki, der – laut Gericht erwiesenermaßen – 13 Jahre lang zu Unrecht im Gefängnis saß für einen Mord, den es nie gegeben hat –, weil es ein Unfall war. Ein Signal an die Öffentlichkeit. Aus Sicht von Verteidigerin Rick gibt es Parallelen in beiden Fällen. Erneut, so will sie suggerieren, droht ein Unschuldiger ins Gefängnis zu geraten.
Strategie der Verteidigung: Es war ein Unfall
Rick und ihr Kollege Georg wollen im Prozess beweisen, dass es sich bei dem Todesfall um einen tödlichen Unfall handelte und Hanna ohne Fremdeinwirkung in den Bach fiel, denn schließlich war sie nach der Partynacht nicht mehr nüchtern.
Anwalt Georg nutzt sein Eröffnungsstatement zu Beginn der Verhandlung, um mit der Vorsitzenden Richterin aus dem ersten Verfahren abzurechnen, wirft ihr das "Fehlen der gebotenen richterlichen Distanz" vor, "Unkenntnis, Hybris und Befangenheit" sowie "grotesken Unfug".
Das geht so lange, bis Walter Holderle, der Anwalt von Hannas Vater, der als Nebenkläger in dem Verfahren auftritt, einen Antrag auf Unterbrechung stellt, da die Verteidigung ihr Schlussplädoyer schon vorwegnehme. Das, was die Verteidigung da vortrage, habe mit einem sogenannten Opening Statement nichts mehr zu tun. Doch das ändert nichts, und Georg darf weitermachen.
Hannas Familie geht weiter durch die Hölle
Nebenklagevertreter Walter Holderle sagt später: "Für die Familie ist das sehr, sehr hart." Hannas Mutter ist, anders als im ersten Prozess, nicht mehr dabei, weil sie es nach Angaben des Anwalts nicht aushält. Und auch dem Vater gehe es "wirklich schlecht". Die "juristischen Geplänkel" der Verteidigung seien "für denjenigen, dessen Tochter umgebracht worden ist, schwer verständlich". Als der Kripo-Beamte Fotos von der toten Hanna zeigt, sagt ihr Vater: "Ich schau’ nicht hin."
"Wenn es tatsächlich ein Unfall wäre, dann könnten die Eltern das akzeptieren", sagt Holderle in einer Verhandlungspause. "Aber der Akteninhalt gibt in keiner Weise einen Unfall her."
Die Vorsitzende Richterin Heike Will mahnt in der Anklageverlesung zur Besonnenheit. Der Tod der jungen Frau sei "eine furchtbare Tragödie", und es sei "nachvollziehbar und auch menschlich, wenn hier ein Bedürfnis besteht, jemanden zur Verantwortung zu ziehen". Allerdings könne der Angeklagte unschuldig im Gefängnis gesessen haben. Dies hätte laut Will "das Leben des jungen Mannes nachhaltig verändert".
Für den zweiten Prozess setzt das Landgericht Traunstein insgesamt 26 Verhandlungstage an. Das Urteil könnte kurz vor Weihnachten, am 19. Dezember, fallen.
Mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP