1. Die Tochter des Oberleutnants (Mai 1979)
Etwas ist geschehen. Er spürt es. Er sieht es in den angespannten Gesichtern der Uniformierten im Zug. Es sind andere Polizisten als sonst, und es sind viele. Aufgeregt schieben sie sich durch die Abteile: „Kontrolle!“ Olaf Claus ist 20 Jahre alt, trägt eine Uniform, er ist auf dem Rückweg vom Wehrdienst, kommt aus Rostock und fährt nach Grevesmühlen, von dort will er zu seinen Eltern an die Ostsee nach Boltenhagen.
Papiere?
Es dauert ein wenig, bis er das Dienstbuch des Wachregiments aus seiner Tasche hervorgekramt hat. Die Polizisten starren noch ungeduldiger als sonst. Woher er komme? Wann er losgefahren sei?
Endlich hält er das Dienstbuch in der Hand, sie studieren es misstrauisch und lassen von Claus ab.
Auch am Bahnhof: Polizei und Aufregung. Wer wie Olaf Claus hier im Grenzgebiet der DDR zum kapitalistischen Feindesland lebt, der denkt sofort in hochpolitischen, hochbrisanten Dimensionen. An westliche Agenten, die den Kreis Grevesmühlen infiltriert haben. Oder an Republikflüchtlinge. Denn nicht nur Touristen zieht es an den Ostseestrand, auch Menschen, die genug haben von Mangelwirtschaft und Gängelung. Sie kommen nicht wegen des feinen Sandes, sondern weil kein Strand der DDR so weit westlich liegt wie der von Boltenhagen. Tausendfach die Versuche, über die Grenze zu schwimmen oder mit einem Boot oder Surfbrett in ein besseres Leben zu gelangen. Manche schaffen es. Mehr scheitern. In solch einer Region sind die Organe des Staates übermächtig. Es wimmelt von Polizisten, Soldaten und Mitarbeitern der Staatssicherheit. Mit Scheinwerfern wird der Strand nachts ausgeleuchtet, von 20 Uhr bis sechs Uhr morgens darf man ihn nur betreten, wenn man wie Olaf Claus die Grenzsoldaten kennt und ihnen auch einmal ein Bier ausgibt. Und dennoch – oder wahrscheinlich gerade deshalb – fühlt sich das Leben hier am Ostseestrand meist ruhig und beschaulich an. Wenn die Menschen hier von Mord und Totschlag reden, dann tragen sich die Taten mindestens 30 Kilometer weiter westlich zu, in der moralisch verrotteten Bundesrepublik.
„Haste schon gehört?“, fragen die Eltern, als er in Boltenhagen ankommt. „Haste gehört?“, werden ihn später auch die Freunde und Bekannten fragen und ihn erschüttert anschauen.