Es geschieht an einem Samstag. Vor einem Jahr, am 20.März 2010, landet Jörg Kachelmann gegen 11 Uhr am Frankfurter Flughafen. Der Schweizer war gut einen Monat als ARD-Wettermoderator bei den Olympischen Winterspielen in Vancouver im Einsatz. Bereits am Gepäckband wird Kachelmann von einer Gruppe Polizeibeamter observiert. Sie haben einen Haftbefehl, denn der heute 52-Jährige soll seine Ex-Geliebte Silvia May (Name geändert) vergewaltigt haben. Die Beamten verfolgen ihn nach draußen, wo ihn eine andere Partnerin, Miriam K., erwartet. Kachelmann und die Studentin küssen sich und laufen zu seinem Auto. Die Polizisten verfolgen die beiden und nehmen Kachelmann noch im Parkhaus fest. Vor Gericht werden sie später erzählen, er sei bei seiner Festnahme ruhig geblieben und habe nicht besonders überrascht gewirkt.
Dies ist ein winziges Detail, das seine Sprengkraft aber noch entwickeln sollte. Denn aus einem strafrechtlich eher unspektakulären und alltäglichen Vorwurf wird der "Fall des Jahres" und dann der "Prozess des Jahres", in dem alles auf die Goldwaage gelegt wird. Unzählige Reporter, viele Juristen sowie eine erkleckliche Zahl an Wissenschaftlern und Experten haben sich spätestens seit dem 20. März 2010 mit der Causa Kachelmann beschäftigt. Doch nach wie vor ist eine Frage ungeklärt: Was ist in der Nacht zum 9. Februar 2010 in der Schwetzinger Wohnung von Silvia May passiert? Hat Kachelmann seine damalige Geliebte tatsächlich mit einem Messer bedroht und dann vergewaltigt - ihre Version? Oder hatten die beiden einvernehmlichen Sex und haben sich dann friedlich - oder zumindest gewaltlos - getrennt, nachdem er ihr seine Untreue gebeichtet hat - seine Version?
Diese Fragen sollen fünf Richter am Landgericht Mannheim beantworten, drei Berufsrichter, zwei Laienrichter, die den Fall seit mehr als sechs Monaten verhandeln. Um Kachelmann zu verurteilen, müssen mindestens vier von ihnen überzeugt sein, dass er schuldig ist. Eine hohe Hürde, denn es fehlen nach wie vor klare und eindeutige Beweise - und diese wird es aller Vorrausicht nach auch bis Prozessende nicht geben. Der Staatsanwaltschaft dürfte es nach derzeitigem Stand schwer fallen, eine Verurteilung wegen der angeklagten schweren Vergewaltigung zu erreichen und es gibt Gründe für einen Freispruch - zumindest aus Mangel an Beweisen.
Das Fantasievermögen der Silvia May
Da nach wie vor Aussage gegen Aussage steht, ist entscheidend, wie glaubwürdig die Angaben der beiden einzigen Beteiligten sind. Den Erzählungen von Silvia May kommt dabei eine erhöhte Bedeutung zu. Schließlich ist sie die Hauptbelastungszeugin, und auf sie stützt sich die Anklage primär. Schon vor Prozessbeginn war aber bekannt geworden, dass die Radiomoderatorin nachweislich gelogen, Beweise gefälscht und dies erst nach intensiver Befragung zugegeben hat. Sie habe ein "nicht unbeachtliches Fantasievermögen", heißt es in dem Spruch des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom Juli, mit dem damals der Haftbefehl gegen Jörg Kachelmann aufgehoben wurde.
Die Bremer Psychologin Luise Greuel hat sich intensiv mit dem angeblichen Opfer unterhalten und kommt in ihrem Gutachten zu dem Schluss, dass die Aussage Mays sehr mangelhaft ist und sich deren Erlebnisgehalt mit aussagepsychologischen Mitteln nicht belegen lässt. Es hört sich nach einem eindeutigen wissenschaftlichen Ergebnis an, trotzdem wertet die Staatsanwaltschaft Greuels Expertise nach wie vor als anklagestützend, da die Psychologin von einer unklaren, im Fachjargon "non liquet" genannten Situation, spreche. Im Oktober 2010 wurde May dann ohne Öffentlichkeit vor Gericht gehört. Ihr Auftritt scheint der Staatsanwaltschaft gut gefallen zu haben. "Wenn wir ihr nach dieser Aussage nicht mehr glauben würden, säßen wir heute nicht mehr in dieser Sache vor Gericht", sagte Oberstaatsanwalt Oskar Gattner stern.de. Kachelmanns Anwalt Johann Schwenn dagegen appellierte vor einigen Wochen an May, doch endlich "reinen Tisch" zu machen und ihre Anschuldigungen zurückzuziehen.
Auch wenn sie dies nicht tun wird, hat das Verfahren einige erhebliche Zweifel an der Stimmigkeit ihrer Tatversion ergeben. Da sind die fehlenden Blut und DNA-Spuren am Messerrücken, den Kachelmann bei der angeklagten Vergewaltigung angeblich ständig an Mays Hals gehalten hat. Staatsanwalt Gattner argumentierte im Gespräch mit stern.de zwar, das Messer könne zufällig an einer Bettdecke abgewischt worden, die Spuren könnten auch beim Herunterfallen auf den Boden verschwunden sein. Und er meint: "Wenn sie sich die Halsverletzungen wirklich selber mit dem Messer zugefügt hat, hätte sie das Messer doch nicht danach abgewischt." Doch einen Beweis, dass das Messer wirklich wie von May geschildert eingesetzt wurde, gibt es ganz offensichtlich nicht.
Das Gericht könnte aber in seinem Urteil den Vorwurf herabstufen und anführen, man habe sich schlicht nicht davon überzeugen können, dass das Messer eingesetzt wurde, sei aber von der grundsätzlichen Anschuldigung überzeugt. Die Strafandrohung würde sinken, denn aus einer "schweren" könnte so eine "einfache" Vergewaltigung werden. Aber ob die Indizien dafür reichen? Schließlich haben die Ärzte und Rechtsmediziner keinerlei Wunden im Intimbereich Mays festgestellt und keine Druckverletzungen, etwa an den Armen, die bei Vergewaltigungsopfern durchaus üblich sind. Auch gehen die renommierten Rechtsmediziner Markus Rothschild und Klaus Püschel, die als Gutachter im Auftrage der Verteidigung auftraten, davon aus, dass die Halskratzer und die Hämatome an Mays Beinen Selbstverletzungen sind. Der vom Gericht beauftragte Gutachter Rainer Mattern ist mit seiner Einschätzung vorsichtiger und hält dies zwar für möglich, ebenso aber auch das Gegenteil. Oberstaatsanwalt Gattner weist zudem ausdrücklich daraufhin, dass Rothschild und Püschel von der Verteidigung dafür bezahlt würden, Zweifel im Sinne des Angeklagten zu säen.
Gattner und sein junger Kollege Lars-Torben Oltrogge machen im Gericht nicht den Eindruck, als ließen sie sich durch den bisherigen Verfahrensablauf oder die ständigen Attacken von Anwalt Schwenn nervös machen. Sie haben zwar - ihrem Auftrag als Mitarbeiter einer unabhängigen Behörde gemäß - einige Mal selber entlastende Details zur Sprache gebracht, sind aber von Kachelmanns Schuld nach wie vor überzeugt.
Es gibt zudem auch Verdachtsmomente, die für die Anklage sprechen. Darunter die angebliche Gelassenheit von Kachelmann bei der Festnahme. Ein angeblich sehr emotionales Telefonat, das Kachelmann mit einer weiteren seiner "Lausemädchen", Katharina T., am Morgen des 9. Februar geführt haben soll. Eine e-Mail Kachelmanns vom 10. Februar an Gefährtin Viola S., in der er einen Link zum Thema "dissoziative Identitätsstörung" angibt, worüber er sich mit ihr unterhalten wolle. Es gibt auch deutlichere Indizien: So meinen sowohl der DNA-Experte vom Landeskriminalamt wie auch Rechtsmediziner Mattern, dass sich die Spurenlage mit der Tatversion von May in Einklag bringen lässt. Und es kommen Zweifel an Kachelmanns Schilderung auf: Denn obwohl Kachelmann bestreitet, May in jener Nacht mehr über seine Affären berichtet zu haben, erzählte die Frau genau davon am nächsten Morgen ihren Eltern. "Das kann sie nur von ihm wissen, sie ist ja keine Hellseherin", meint Staatsanwalt Gattner. "Dies ist ein Hinweis darauf, dass seine Version nicht stimmt."
Schweizerin könnte Kachelmann gefährlich werden
Richtig in Bedrängnis könnte Kachelmann eine Schweizerin bringen. Sie hatte Medienberichten zufolge nur wenige Wochen vor der angeblichen Vergewaltigung Mays eine äußerst unangenehme Begegnung mit dem Wetterexperten. So soll Kachelmann die Frau ziemlich rüde zum Sex gedrängt, wenn nicht sogar gezwungen haben. Weder Gattner noch Schwenn wollten sich auf stern.de-Anfrage zu den Berichten und der nicht-öffentlichen Aussage der Schweizerin äußern. Aber sollte sie die Begegnung mit Kachelmann wirklich so geschildert haben und die Richter ihr Glauben schenken, wäre eine Vergewaltigung keine völlig wesensfremde Tat für Kachelmann.
Wieder ein Indiz. Aber wieder kein Beweis. Wie so häufig in diesem komplizierten Prozess. Fortsetzung am Montag.