Ludwigshafen und die Folgen "Schule muss alle zu Gewinnern machen"

Ludwigshafen, Winnenden, Erfurt - fast immer sind Lehrer Opfer bei Amokläufen. Wie gefährlich ist der Lehrerberuf? Im stern.de-Interview spricht der Chef der Erziehungsgewerkschaft GEW über Leistungsdruck, Eingangskontrollen und Respekt.

Herr Thöne, in Ludwigshafen hat ein ehemaliger Schüler einer Berufsschule offenbar gezielt seinen Ex-Lehrer angegriffen. Ist der Lehrerberuf lebensgefährlich geworden?
Für einzelne Kollegen ganz sicher. Allerdings sind Angriffe wie der in Ludwigshafen immer noch Einzelfälle.

Aber bei den Gewalttaten an Schulen in den vergangen Jahren wurden immer auch Lehrer zu Opfern. Sind sie zur Zielscheibe geworden?
Es gibt auch andere Berufsgruppen wie Polizisten oder Busfahrer, die ebenso Opfer von Gewaltausbrüchen werden. Das sind Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und - zu Unrecht - für Missstände in der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden.

Ein Lehrer wurde getötet, nur weil er vor sechs Jahren anscheinend schlechte Noten verteilt hat. Sind heute einige Lehrer mit einem mulmigen Gefühl in die Schule gegangen?
Es mag sicher Kollegen geben, die von Sorgen geplagt werden. Aber die Auseinandersetzung mit Schülern über Noten gehört schon immer zum Lehrergeschäft. Die meisten Lehrer wissen damit vernünftig umzugehen und wissen auch, wie sie mit den Schülern darüber sprechen müssen. Wer sich unsicher ist, sollte sich an erfahrene Kollegen wenden.

Wie kann denn ein Lehrer merken, dass sich ein Schüler ausgegrenzt, benachteiligt fühlt?
Natürlich gibt es psychologische Anhaltspunkte. Oft sind gerade die weniger Auffälligen die Gefährdeten. Aber nehmen wir doch mal eine Berufsschule wie die, an der die Tat geschehen ist. Da unterrichtet ein Lehrer teilweise 200 Schüler. Wie will man denn da psychische Veränderungen eines jeden Jugendlichen erkennen?

Nach Winnenden wurden - auch von der GEW - deshalb mehr Schulpsychologen gefordert. Welche Bundesländer sind dieser Forderung denn nachgekommen?
Die Schulpsychologie in Thüringen wurde nach dem Amoklauf in Erfurt gestärkt und auch in Baden-Württemberg wurde nach Winnenden mehr getan als vorher. Aber nach wie vor kämpft Deutschland mit Malta um den letzten Platz in Europa, wenn es um die Zahl der Schulpsychologen geht.

Was wurde nach dem Amoklauf von Winnenden getan, damit in den Schulen bei einer Gewalttat schnell reagiert werden kann?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche Bundesländer haben verantwortlich reagiert, andere setzen ihre Streichpolitik fort. In manchen Städten gibt es eine engere Zusammenarbeit mit der Polizei, in manchen nicht. Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Flickenteppich. Die Notfallpläne, die schon nach dem Amoklauf von Erfurt erarbeitet wurden, sind nur in einem Teil der Schulen umgesetzt worden. Aber wenn Schulen schon zu wenig Personal haben, ihren Pflichtunterricht abzudecken, dann ist klar, dass kaum Zeit ist, sich um die Umsetzung eines Notfallplanes zu kümmern.

Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach ist gegen verstärkte Eingangskontrollen an Schulen. Sehen Sie das genauso?
Ja. Denn so macht man aus der Schule einen Sicherheitstrakt, anstatt die Kinder morgens willkommen zu heißen und ihnen zu zeigen, dass sie erwünscht sind.

Zeigt die Tat von Ludwigshafen einen Mangel an Respekt vor Lehrern?
In unserer Gesellschaft geht der Respekt des Menschen vor dem Mitmenschen immer mehr verloren. Wie man in den Wald rein ruft, so schallt es heraus. Man muss allen die Sicherheit geben, dass sie gebraucht werden, und darf sie nicht aussortieren.

Ein Mord nur wegen schlechter Noten. Ist der Leistungsdruck in der Schule zu hoch?
Ich weigere mich, die Ursache für solche Gewalttaten nur in der Schule zu sehen. Man muss es grundsätzlicher fassen: Auch wenn die Kriminalität insgesamt zurückgegangen ist, hat die Brutalität zugenommen. Das trifft auf die ganze Gesellschaft zu, nicht nur auf die Schule. Schule ist dabei in vielerlei Hinsicht das Spiegelbild der Gesellschaft - auch ihrer Fehlentwicklungen.

Aber die Schule spielt doch im Leben von jungen Leuten eine besonders wichtige Rolle!
Keine Frage. Natürlich ist Schule für sie ein zentraler Ort, ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben. Aber man kann nicht sagen: Nur weil bei einem Jugendlichen in der Schule möglicherweise etwas schief gelaufen ist, ist es zu einer solchen Gewalttat gekommen.

Die Täter von Winnenden, Ansbach, jetzt Ludwigshafen fühlten sich von der Institution Schule benachteiligt und ausgegrenzt. Wie bekommt man solche Menschen dazu, sich friedlich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen?
Wir müssen unser Bildungssystem so umorganisieren, dass in der Schule erheblich mehr Zeit für Gespräche, -Diskussionen und Verständigungsprozesse bleibt. Wir dürfen nicht alles unter dem Wettbewerb- und Leistungsaspekt betrachten. Denn logischerweise gibt es bei diesem Wettbewerb neben Gewinnern auch Verlierer. Das verursacht bei diesen Menschen Verletzungen. Wir müssen in der Schule alle zu Gewinnern machen.

Wie kann das gelingen?
Schule muss für die Kinder und Jugendlichen zu einem Lebensraum werden, in dem alle individuell gefördert und unterstützt werden. Dafür muss das derzeitige Schulsystem, das auf Auslese und das Einsortieren der Schüler in Schubladen ausgerichtet ist, weiter entwickelt und überwunden werden. Die Jugendlichen brauchen ihren Platz in der Gesellschaft.

Die Gesellschaft entlässt zigtausende junge Menschen auf -den Arbeitsmarkt, ohne dass sie eine Chance haben, dort anzukommen. Ich will nicht sagen, dass dies die potenziellen Amokläufer sind. Aber hier sammeln sich Frust und Gewaltbereitschaft. Die Politik muss alle unterstützen und zwar nicht nach der Maßgabe, wie diese Förderung am billigsten zu machen ist.

Ulrich Thöne

Ulrich Thöne (Jahrgang 1951) ist gelernter Berufsschullehrer. Ab 1999 war er Vorsitzender der GEW Berlin. Im April 2005 wurde er zum Vorsitzenden der GEW gewählt.

Malte Arnsberger

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