Mordprozess Einfach so totgestochen

Sie weiß bis heute nicht, warum: Sechsmal hieb Nadja mit einem Messer auf ihre Freundin ein. Jetzt steht eine 16-Jährige vor gericht, die keiner im Griff hatte - nicht einmal sie selbst.

Wenn Erwachsene sie siezen, findet Nadja das komisch. Sie will lieber geduzt werden. Nadja ist 16. Ein hübsches Mädchen mit dunklen Haaren, Brille und ernsten Augen. Zurzeit ist sie am liebsten allein in ihrer Zelle in der Haftanstalt Bühl und schreibt Briefe, in ihrer kindlichen, ordentlichen Handschrift, die Bögen schön ausgemalt: an ihre Freundinnen, den Freund, an die Eltern ihres Opfers. Dann ist Nadja so, wie sie kaum einer kennt: still, nachdenklich, in sich gekehrt.

Die andere Nadja brüllt: "Halt's Maul!", sobald ihr etwas nicht passt. Sie ist trotzig, aufsässig, knallt mit den Türen. Ein Kind außer Kontrolle. Sie wirft mit Büchern um sich, trägt Militärhosen, raucht 30, 40 Zigaretten am Tag und trinkt Wodka wie die Kerle. Bei einer Polizeikontrolle legte sie sich schon mal mit den Beamten an, beschimpfte sie als "Missgeburt" und versuchte, einem der Polizisten in die Genitalien zu treten.

"In Nadja gibt es zwei Welten", sagt ihre ehemalige Lehrerin Ellen Maurer×. Engelsgesicht - und unglaublicher Zorn: Sie habe das nie zusammengebracht. Dabei sei das Mädchen intelligent. "Ich dachte oft, da lässt sich was draus machen." Doch Nadja sei ein "besonderes Kaliber".

Bis zu jenem Tag, an dem sie ihre Freundin Nicole niedersticht, ist Nadja M., geboren in Kasachstan, aufgewachsen in Deutschland, die Wortführerin einer Mädchenclique in Karlsruhe. Die 16-jährigen Teenager, Haupt- und Berufsschülerinnen, sind nicht zimperlich. Ihr Zickenkrieg wird auch mal mit Fäusten ausgetragen. Doch sie halten zusammen. Bis zum 31. Mai 2006. Nadja trifft sich am Abend mit ihren Freundinnen Alina und Jessica auf dem Europaplatz in Karlsruhe, zwei Jungs sind auch dabei, Dani und Alex. In der Straßenbahn treffen sie Nicole. Nadja und Nicole, sie waren jahrelang "beste Freundinnen". Doch seit ein paar Wochen schwelt Streit. Die 17-jährige Nicole, die ein freiwilliges soziales Jahr im Krankenhaus absolviert und Kinderkrankenschwester werden will, soll einer Freundin von Nadja auf die Nase geschlagen haben. Nadja setzt sich zu Nicole und macht ihr Vorwürfe: Das sei eine Gemeinheit gewesen, schließlich wisse sie genau, dass die Freundin sich nicht wehre. Nicole, die allein unterwegs ist, versucht sie zu beschwichtigen. Nadjas Wut scheint verraucht.

Am Kronenplatz in der Karlsruher Innenstadt steigen alle aus. Die Mädchen wollen rauchen, Nicole bietet an, Zigaretten zu holen. Alina sagt, sie müsse Nicole nun aber noch eine Ohrfeige geben, "so im Spaß". Nicole nimmt sie hin und geht zum Automaten. Da zieht Nadja plötzlich ein Klappmesser, das sie in der Hosentasche trägt, und sticht ihrer Freundin in den Rücken. Nicole dreht sich schockiert um. Nadja nimmt das Messer in die linke Hand. Links habe sie mehr Kraft, wird sie später aussagen. Sie sticht erneut zu, von vorn, mit Wucht, blitzschnell. Sie sticht Nicole in den Bauch, in die Arme, in die Herzgegend. Nicole bricht zusammen. Nadja hört sie noch mit schwacher Stimme um Hilfe rufen. Sie verpasst ihr einen Tritt und flüchtet mit den Freundinnen, die noch gar nicht begreifen, was geschehen ist. In der Toilette eines Dönerladens waschen sie das Messer. Ein Passant ruft den Notarzt, Nicole droht zu verbluten. Sie wird operiert, zwei Tage später stirbt sie.

"Ich weiss nicht, warum ich das gemacht habe", sagt Nadja heute. Sie habe sich "nichts dabei gedacht". Nichts dabei gedacht, als sie der Freundin eine sieben Zentimeter lange Klinge in den Oberkörper rammte? Sie habe Nicole "schneiden" wollen, aber "mit Sicherheit" nicht umbringen. Sie erinnere sich an zwei Stiche. Tatsächlich waren es mindestens sechs.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Karlsruhe lautet auf Mord. Wer sechs- mal zusticht, nehme den Tod des Opfers "billigend in Kauf". Nadjas Anwalt Markus Bessler sagt: "Banale, ja kindliche Gründe" hätten sie zu ihrer Tat bewogen. Sie wollte der Freundin eine "Abreibung" erteilen. Und dann die Gruppendynamik: Sie, die Wortführerin der Clique, wollte auf die Ohrfeige von Alina "noch eins draufsetzen". Vielleicht, um sich vor den Freunden wichtigzutun. Soll das die ganze Erklärung sein? Nein, räumt ihr Verteidiger ein.

Es gibt keine Erklärung. Aber es gibt Hinweise, weshalb aus einem zunächst normalen, gesunden Kind ein Teenie wird, der Erwachsene das Fürchten lehrt. Nadja wird in Ka-sachstan geboren. Als sie anderthalb Jahre alt ist, ziehen die Eltern mit ihr und dem zwei Jahre älteren Bruder nach Deutschland. Der Vater ist Spätaussiedler, die Mutter stammt aus Usbekistan. Die Mutter ist Zeugin Jehovas, will unauffällig leben und sich so schnell wie möglich nach oben arbeiten. Sie schuftet in einer Wäscherei. Für die Kinder bleibt kaum Zeit, deshalb bringt sie Sohn und Tochter schon nach wenigen Monaten zurück nach Kasachstan zu den Großeltern.

Mit drei Jahren ist Nadja, zusammen mit ihrem fünfjährigen Bruder, wieder bei den Eltern in Deutschland. Jetzt kümmert sich der Vater um die Geschwister. Über ihn sagt Nadja heute nur, er sei "geisteskrank".

In ihren Vernehmungen berichtet sie, dass der Vater von seinen Kindern ständig verlangt habe, Liegestütze und Kniebeugen zu üben. Wenn sie es nicht schafften, beschimpfte er sie als "Waschlappen". Auch einen Spagat forderte er. Dazu drückte er die Dreijährige an den Schultern auf den Boden. Manchmal musste sie sich mit dem Rücken an die Wand setzen, und der Vater grätschte ihre Beine zur Seite gegen die Wand. Wenn sie vor Schmerzen weinte oder schrie, brüllte er und schlug sie mit dem Ledergürtel. Dazu musste sie ihre Hose ausziehen. Wenn sie unter den Hieben auf den nackten Po weinte, bekam sie noch mehr Schläge. Auch abends, wenn die Mutter nach Hause kam. Die stritt sich mit ihrem Mann, wagte aber nicht, Hilfe zu holen.

Das sadistische Regiment des Vaters dauert mindestens sechs Jahre. Manchmal verschwindet er für ein paar Wochen, um Autos von Deutschland nach Kasachstan zu schaffen. Als er wegen Drogenhandels für ein Jahr im Gefängnis landet, atmen die Kinder auf. Dann kehrt er zurück.

Einmal gibt es Hoffnung, dass die Quälerei ein Ende hat. Der Vermieterin fällt der Lärm aus der Wohnung auf. Sie droht dem Vater, ihn beim Jugendamt anzuzeigen, und verlangt, dass er auszieht. Doch die Anzeige unterbleibt, die Familie zieht in den Schwarzwald. Nadja und ihr Bruder üben weiterhin den Spagat. Seine Kinder, behauptet der Mann, würden ihm eines Tages noch dankbar für die Schläge sein.

Schon im Kindergarten fällt Nadja auf, weil sie andere Kinder schlägt. Doch niemand begibt sich auf die Suche nach den Ursachen. Auf Erwachsene, das hat das Kind schnell begriffen, ist kein Verlass. Auch in der Grundschule gilt sie als aggressiv. Sie frisst sich Kummerspeck an, worauf ihr Vater sie hänselt, sie sei zu fett. Nadja macht nachts ins Bett, noch mit neun Jahren - tags lässt sie die Wut heraus, immer häufiger auch an ihren Lehrern. "Nadja hat sich ihre eigenen Gesetze gemacht", erinnert sich Ellen Maurer, ihre Lehrerin an der Hauptschule. Einmal kann die Pädagogin nur knapp einem Stuhl ausweichen, den Nadja in ihre Richtung schleudert. Nadja wirft mit Büchern, und wenn sie ermahnt wird, schreit sie ihre Lehrer an. Und ermahnt wird sie ständig.

Mit elf raucht sie Marihuana. Mit zwölf ist sie das erste Mal volltrunken. Mit 13 raucht und trinkt sie in aller Öffentlichkeit. Vom Kiffen bekommt sie Fressanfälle. Sie wiegt mit 13 Jahren 87 Kilo. Mit 14 will sie sich das Leben nehmen und schluckt Tabletten, aber sie bekommt nur Magenkrämpfe. Mit dem Teppichmesser ritzt sie sich die Unterarme auf. Das Ritzen wird zur neuen Sucht. Durch den Wundschmerz spürte sie ein paar Stunden lang ihre inneren Schmerzen nicht mehr, sagt sie später der Polizei.

In der Schule nennt man sie - auch wegen ihrer Militärhosen - längst das "russische Kampfweib". Die Lehrer und Mitschüler wissen nicht, was sie mit diesem Mädchen anfangen sollen. Nur in ihrer Clique findet sie Respekt. Sie ist der Chef von Jessica, Alina, Sabrina und Nicole. Regelmäßig treffen sie sich am "Raucherbaum" auf dem Pausenhof.

Nadja schwänzt, wann sie mag. Es hagelt Verweise, doch die perlen an ihr ab. Die Schule bestellt die Mutter ein. "Sehr jung und hilflos hat sie gewirkt", sagt Lehrerin Maurer. Der Vater hatte da schon die Familie verlassen, die Mutter hatte längst keinen Zugang mehr zu ihrer Tochter. Das Jugendamt soll helfen, doch da ist Nadja schon 13, und auf den "Gesprächskreis für schwer erziehbare Mädchen" hat sie keine Lust. Das sei doch nur "Einmischung".

Ein bisschen Lob allerdings kann Wunder bewirken. Als Frau Maurer ihr einmal sagt, es würde "viel Potenzial" in ihr stecken, habe sie "verwundert geguckt". Nadja lässt sich motivieren. Sie schafft es immer wieder mühelos, Stoff nachzuholen, den sie durch Schwänzen versäumt hat. Sie ist musikalisch, spielt Flöte, beginnt das Klavierspiel. In Mathematik gelingt es ihr kurz vor ihrem Schulabschluss, sich von einer Vier auf eine Zwei hochzuarbeiten, in Englisch schafft sie es gar, sich von 5,5 auf 1,8 zu verbessern. "Wenn sie wollte, konnte sie", sagt Frau Maurer.

Und auf einmal wollte sie. Nadja nimmt zum Ende der Hauptschulzeit 20 Kilo ab. Ihre Nachhilfestunden bezahlt sie von dem Geld, das sie beim Zeitungsaustragen verdient. Im Sommer 2005 macht sie einen guten Hauptschulabschluss. Sie will unbedingt auf die Realschule und die mittlere Reife nachholen. Bei der Verabschiedung bedankt sie sich bei ihrer Lehrerin und entschuldigt sich für die "Fehler", die sie gemacht habe. Frau Maurer hat ein "gutes Gefühl."

Doch dann bekommt Nadja auf der Realschule keinen Platz. Sie muss auf eine Berufsschule, Warteschleife. Ihre Motivation erlahmt wieder. Nach drei Monaten fliegt Nadja wegen ständigen Schwän-zens. Sie interessiert sich nur noch für ihre Clique, trinkt wieder mehr Wodka, verliert beim kleinsten Anlass die Kontrolle. Aus einer kleinen Rempelei mit anderen Mädchen in einer Diskothek entwickelt sich eine Prügelei. Nadja schlägt einer Mitarbeiterin die Faust ins Gesicht. Die Polizei will sie zur Wache mitnehmen. Nadja tritt gegen das Polizeifahrzeug, beleidigt eine Polizistin, tritt deren Kollegen, ist außer Rand und Band. "Wenn ich etwas getrunken habe, bin ich aggressiv", bekennt sie in den späteren Vernehmungen. "Krieg ich dann noch Ärger, geht's los. Um gut drauf zu sein, trinke ich trotzdem."

Zu ihrem 16. Geburtstag, ein paar Wochen vor der Tat, war auch Nicole gekommen und hatte ihr ein Parfüm geschenkt, das Nadja stolz der Mutter zeigte. Im Gefängnis hat sie ein Foto von Nicole ins Album geklebt und mit Blumen ummalt. Sie verspüre Reue, sagt ihr Anwalt.

Das wird ihr bei ihrer alten Clique nichts mehr nützen. Ihre besten Freundinnen haben sich von ihr distanziert. Freunde von Nicole, die auch ihre Freunde waren, haben mit Rache gedroht. Nadja sagt: Wenn sie aus dem Knast entlassen werde, sei sie die Nächste, "die ins Grab kommt".

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Ingrid Eißele<br/>Mitarbeit: Christine Böhringer

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