Keiner hätte ihm diese Tat zugetraut: Seine Freundin nicht, sein früherer Chef nicht und er selbst auch nicht. Sogar der Staatsanwalt ist sprachlos. "So ein krasses Missverhältnis zwischen einem Übermaß fürchterlichster Gewaltanwendung und einem Täter, der von allen als nett, freundlich, kinderlieb und fürsorglich geschildert wird, habe ich noch nicht erlebt", sagt Reinhard Albers, der die Mordanklage vor dem Landgericht Berlin vertritt.
Hohe Schulden trotz viel Arbeit
Es war kurz vor Weihnachten, da war das Leben des Marico T. am Tiefpunkt angelangt. Der gelernte Verkäufer absolvierte gerade bei einem Discounter eine Ausbildung zum Filialleiter. Weil er in eine falsche Lohnsteuerklasse eingruppiert worden war und es ihm nicht gelang, diesen Fehler zu korrigieren, betrug sein Gehalt nur etwa 600 Euro. Nebenbei versuchte er, Versicherungen zu verkaufen. Es drückten ihn Schulden in einer Höhe, die der Staatsanwalt auf 5000 Euro beziffert. T. selbst sagt, er habe darüber keinen Überblick gehabt.
Seine Verlobte wollte ihn verlassen, denn er hatte keine Zeit mehr für sie und ihren kleinen Sohn, um den er sich eigentlich wie ein Vater kümmern wollte. Haushaltsgeld konnte er ihr nicht geben, obwohl er oft bei ihr wohnte. Darüber wunderte sie sich: "Wer von morgens bis abends arbeiten geht, müsste rein theoretisch viel Geld haben", sagt die zierliche 23-Jährige dem Gericht. Sie spürte seine Angespanntheit, aber er habe mit ihr nie über seine Probleme reden wollen. Kurz vor der Tat sollte Marico T.s Wohnung geräumt werden, Strom und Handy waren bereits abgestellt. Am 21. Dezember 2007 versagte ihm dann die Bank einen beantragten Kredit.
Da beschloss der passionierte Waffensammler, einen Raubüberfall auf seinem ehemaligen Arbeitsplatz zu verüben. Er kannte die Räumlichkeiten in dem Supermarkt im Norden Berlins. Dorthin war er von einer Zeitarbeitsfirma von Juli bis Oktober des vergangenen Jahres geschickt worden. "Die Idee ist mir in den Kopf gekommen und ging nicht wieder heraus", sagt der 23-jährige Angeklagte im Gerichtssaal und beteuert, er habe damals niemanden verletzten wollen. Es fällt schwer, dem schmalen Mann mit dem strubbeligen schwarzen Haar zuzuhören: Selbstmitleidig und unter permanenten Weinkrämpfen schluchzt er seine Worte hervor. Dabei wischt er sich ständig mit der Hand über Kopf und Gesicht. Er heult im wahrsten Sinne Rotz und Wasser.
Angriff mit Messer und Gaspistole
Es war schon Abend, als Marico T. zu dem Supermarkt fuhr, bewaffnet mit einem Klappmesser von zehn Zentimetern Klingenlänge und einer neun Millimeter Gaspistole. Auch eine Sturmhaube hatte er mitgenommen. Unterwegs habe er mit sich gehadert, denn er wusste, "dass das der falsche Weg ist". Dennoch entschloss sich Marico T., den Supermarkt zu betreten - unmaskiert. Dort traf er einen Kassierer und seinen früheren Chef, den Marktleiter Frank U., der gerade ein Regal mit Dosen auffüllte. Marico T. wünschte beiden "Fröhliche Weihnachten!" und bat darum, zwei Babyfläschchen aus der Personalküche holen zu dürfen, die habe die Personalleiterin dort für ihn bereitgestellt. Unterdessen begaben sich der Kassierer und der Marktleiter in das Personalbüro und zählten die Tageseinnahmen - fast 20.000 Euro.
Um 22 Uhr schloss der Markt. Marico T. wurde nun von seinen früheren Kollegen gebeten, zu gehen. Marico T. berichtete den beiden geldzählenden Männern noch kurz von seiner Arbeit bei dem Discounter, dann wünschte man ihm "Alles Gute!". Der Wachmann, ein junger, großer, sportlicher Türke sollte T. aus der bereits verschlossenen Eingangstür herauslassen. Marico T. wusste nun, dies ist die letzte Gelegenheit für den geplanten Überfall.
Für das folgende Geschehen gibt es unterschiedliche Versionen. T. sagt, er habe ein ungutes Gefühl bekommen. "Mir ist komisch geworden, ich hatte keine Kontrolle über mich selbst." Er wollte den Wachmann in einen Kühlraum einsperren und habe deshalb das Messer hoch gehalten und zu Ugur U. gesagt, er solle ruhig bleiben. Der sei aber gleich auf ihn losgegangen, so der Angeklagte. "Ich wollte nur noch weg." An Einzelheiten könne er sich kaum erinnern. "Erst von der Polizei habe ich erfahren, dass ich für den Tod eines Mitbürgers verantwortlich war."
Urteil: lebenslange Haft
Nach einer fünftägigen Beweisaufnahme geht das Gericht jedoch davon aus, dass Marico T. dem arglosen Wachmann sofort die tödliche Schnittverletzung am Hals beigebracht hat. Anschließend lief der Angeklagte in das Personalbüro zu seinen beiden ehemaligen Kollegen, die bereits die Geldscheine im Tresor verstaut hatten und nun mit der Wechselgeldkasse beschäftigt waren. Er forderte sie auf, sich auf den Boden zu legen. Der Marktleiter erinnert sich später als Zeuge daran, wie perplex er darüber gewesen sei:"Man hat die Welt nicht mehr verstanden." Keine zwei Monate war es her, da war T. ein ruhiger, unauffälliger Mensch, der seine Arbeit gemacht habe. Nun bestand er "nur noch aus Wut", erzählte Frank U.
Der bewaffnete Räuber verlangte die Schlüssel zum Tresorraum. Doch die Marktangestellten kommen nicht an die Einnahmen heran, denn den Schlüssel dafür verwahrte eine Sicherheitsfirma. "T., nimm die Kasse und verschwinde von hier", will der Marktleiter ihm zugerufen haben. "Doch T. war gar nicht mehr aufs Geld aus", sagt Frank U., "Der wollte nur noch zusehen, dass da keiner am Leben bleibt im Laden."
Marico T. trat dem Kassierer auf den Kopf und beschoss ihn mit der Gaspistole. Dann stürzten sich der schwerverletzte Wachmann und der Marktleiter gemeinsam auf den Angreifer. Dies nutzte der Kassierer zur Flucht aus einem Fenster. Der Kampf der drei Männer verlagerte sich in den Eingangsbereich, bis den tödlich verwundeten Wachmann die Kräfte verließen und Frank U. sich nun allein dem Bewaffneten gegenüber sah. "Ich stand da, wie das Kaninchen vor dem Jäger", erinnert sich U. Nachdem T. ihm in den Hals geschnitten habe, habe er an seine Eltern gedacht und sich gewünscht, nicht mit 45 Jahren sterben zu müssen. Dies habe ihm die Kraft verlieheb, T. die Pistole zu entreißen. Der Marktleiter bekam das Taschenmesser des sterbenden Wachmanns in die Hände: "Ich stach auf Marico T. ein, nur um herauszukommen." Vor dem Gebäude wartete bereits die Polizei, die der Kassierer alarmiert hatte. Widerstandslos ließ sich Marico T. von den Beamten festnehmen.
Wegen Mord, versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung und versuchter Raub steht nun ein junge Täter vor Gericht, der zwar eine Vorliebe für Waffen besitzt, jedoch niemals zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Er sei ein Mann von großer kindlicher Naivität, sagt der psychiatrische Gutachter Alexander Böhle über den Angeklagten, den er als emotional instabil, egozentrisch, übertrieben empfindlich, verschlossen und gefühlskalt beschreibt. "Die Situation in dem Supermarkt hat ihn überrollt", sagt Böhle. Doch obwohl er dem Angeklagten eine multiple Persönlichkeitsstörung bescheinigt und ihm dringend rät, sich in Therapie zu begeben, hält der Gutachter ihn nicht für vermindert schuldfähig.
Staatsanwalt Albers fordert lebenslängliche Haft für Marico T und will, dass die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird. Doch das Gericht entscheidet anders. Es verurteilt den Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, erkennt aber nicht die besondere Schwere der Schuld. Weil der Angeklagte eben noch so unreif sei und der Gutachter ihm multiple Persönlichkeitsstörungen bescheinigte, habe man sich gegen eine Verschärfung des Urteils entschieden, sagt der Vorsitzende Richter Hans Luther.
Dennoch ist der Bruder des getöteten Wachmannes damit zufrieden. "Lebenslänglich hat uns schon beruhigt", sagt der 23jährige Nebenkläger. "Es gibt für uns sowieso keine gerechte Strafe für den Tod meines Bruders."