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Komasaufen-Prozess Der Gewinner wird der Verlierer sein

Seit Februar beschäftigt sich das Berliner Landgericht mit dem Alkohol-Tod des Schülers Lukas W. Der Wirt Aytac G. soll dessen Tod verschuldet haben, weil er seinen zehn Jahre jüngeren Gegner zum Wetttrinken animierte. Heute soll in diesem einmaligen Justiz-Fall das Urteil gesprochen werden.
Von Uta Eisenhardt

Lustig sollte das Wetttrinken werden. So wie jenes ein halbes Jahr zuvor: Da duellierte sich der Wirt Aytac G. mit einem 18-Jährigen, der sich am Ende bekotzte und bepinkelte - zur Gaudi des Wirtes und seiner jugendlichen Freunde. Im Februar 2007 ließ sich Aytac G. erneut auf ein Gelage ein. Diesmal war sein Gegner der 16-jährige Lukas W. Der Wirt schummelte sich mit Wasser zum Sieg, der Schüler fiel nach fast einem Liter Tequila ins Koma und starb.

Zwei Jahre später steht der 28-jährige Aytac G. wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor dem Berliner Landgericht: Ein rundlicher, türkischstämmiger Berliner, den seine Freunde als fröhlich und kommunikativ beschreiben. Einer, der Probleme leicht zu nehmen scheint, eine Spielernatur. Nach der Schließung seiner Kneipe fand er Arbeit in einem Callcenter.

Es ist ein einmaliger Justizfall, der das Trinkverhalten einer ganzen Generation Minderjähriger berührt, von denen allein in Berlin Hunderte pro Jahr zur Entgiftung ins Krankenhaus geschafft werden müssen. Darf jeder so viel trinken, wie er möchte, und handelt es sich beim Tod von Lukas W. um ein tragisches, nicht vorhersehbares Unglück? Oder können diejenigen belangt werden, die den tödlichen Alkoholkonsum fördern?

Gleich zu Beginn des Prozesses im Februar dämpft der Vorsitzende Richter die Erwartungen. Es gehe hier um die individuelle Schuld des Angeklagten am Tod eines jungen Menschen, erklärt Peter Faust: "Wir können nicht klären, warum Jugendliche sich betrinken und wie Eltern das verhindern können. Wir können auch nicht klären, wie man besser die Gaststätten kontrolliert."

Es ist der Auftakt zu einem zähen Prozess, in dem insbesondere der Verteidiger durch ständige Zwischenrufe für eine unwürdige Atmosphäre sorgt. Überdies bezeichnet er scheinbar versehentlich Staatsanwalt Reinhard Albers als "Staatsanwalt Albern". Später beschimpft er einen der überwiegend jugendlichen Zeugen als "Pennäler", weil dieser dem Anwalt attestiert, er habe nicht richtig zugehört. Die Schuld seines Mandanten spielt er mit Ironie herunter: "Im Saal wabert die Empörung, ein schlimmes Verbrechen ist passiert!"

Niemand weist den Verteidiger in die Schranken. Der Vorsitzende Richter befördert sogar das Klima der Respektlosigkeit indem er frozzelnd das Rezept für den Cocktail "Sex on the beach" verliest - all das in Anwesenheit der traumatisierten Mutter des Opfers. Wie eine Farce wirken dann die Worte des Richters, mit denen er die Befragung der Mutter einleitet: "Es ist unvermeidbar, dass es für Sie schmerzlich ist."

Vor mehr als zwei Jahren zog Aytac G. mit seiner Bar "Eye T" vom Süden in den Westen Berlins. Sie war unter Minderjährigen gut bekannt: Billig und ohne Kontrollen wurde hier Alkohol serviert. Das wäre ihm egal gewesen, bekundet Aytac G., dem in der 180 Fälle umfassenden Anklage auch 174 Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz vorgeworfen werden.

Zwei Wochen nach Einweihung der neuen Bar fand das Wetttrinken mit Lukas W. statt. Wochen vorher hätte der Schüler davon erzählt, sagen seine Freunde vor Gericht. Der trinkfeste junge Mann wollte unbedingt gegen den Wirt antreten, der sich damit brüstete, ein halbes Jahr zuvor ein alkoholisches Duell gewonnen zu haben.

In der Nacht von Samstag zu Sonntag, den 25. Februar 2007 besuchte Lukas W. eine Disco. Dort habe Lukas zwei, drei Bier getrunken, erinnert sich einer seiner Begleiter: "Nicht mehr - weil er noch wetttrinken wollte." Anschließend begab sich der Gymnasiast ins "Eye T". Drei Freunde hatte er zuvor gebeten, ihn zu begleiten und auf ihn aufzupassen. Alle hatten ihm abgesagt.

Allein begab sich der Schüler gegen 4 Uhr morgens in die Bar. Zuvor hatte der Wirt eine Tequila-Flasche mit Wasser gefüllt und seinen Türsteher angewiesen, ihm daraus "zwischendurch" einzuschenken. "Nur ich und Herr G. wussten von dem Wasser", sagt Edis B. Der Angeklagte begründet seinen Betrug: "Ich war damals schlecht ernährt und ziemlich müde." Maximal zehn Tequila hätte er noch vertragen. Ohne viel Aufhebens begannen die beiden Kontrahenten mit dem Wetttrinken. Zwischendurch tanzten und schwatzten sie mit den anwesenden etwa 15 bis 20 Jugendlichen. Die bemerkten wenig von dem Gelage - nur die Zahlen, die der 17-jährige Schiedsrichter "Matze" aufrief.

Etwa bei der 20. Runde verwechselte eine Kellnerin die beiden Gläser. Der Schüler rief: "Schmeckt wie Wasser!" Einen Betrug witterte er nicht - im Gegensatz zum Schiedsrichter: "Ich bin stutzig geworden, habe hinter die Bar geguckt und sah, wie Edis aus zwei Flaschen eingoss", erinnert sich "Matze". Darum stellte er die Tequila-Flasche offen auf den Tisch.

Trotz der ungleichen Bedingungen lag Lukas W. zunächst in Führung, sagt ein anderer Zeuge. Nach dem 40. Tequila habe der Schüler um eine Pause gebeten. "Dann hat Aytac eine Fünfer-Reihe ausgetrunken", so dieser Zeuge. "Lukas wurde damit unter Druck gesetzt, hat aber seine Fünfer-Reihe nicht mehr geschafft." Gegen fünf Uhr sank der Kopf des Verlierers auf seinem Arm.

Zehn Minuten später überließ der angetrunkene Sieger seine Bar jenem Freundeskreis aus 16- bis 20-Jährigen, die zur so genannten "Eye T-Family" gehörten. Sie sollten aufräumen und den Schüler nach Hause schaffen. Der Wirt selbst fuhr in die Wohnung seiner damaligen Freundin, um deren Tochter zu beaufsichtigen. Im Hausflur parkte er eine Bar-Bekanntschaft: Die junge Frau wartete dort, bis Aytac G.'s Freundin die Wohnung verlassen hatte.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was der Wirt Aytac G. dachte, als er vom Tod seines Gegners erfuhr

Während der Wirt sich nun mit seiner Gespielin beim Sex amüsierte, legten die Jugendlichen im "Eye T" den berauschten Lukas W. in eine Ecke. "Matze" schrieb auf dessen Bauch: "Du hast verloren. Erst säufst du und dann kotzt du. Aytac 45, du 44." Bald bemerkten die Anwesenden, dass es dem Schüler nicht gut ging. Sie überlegten, ob sie die Feuerwehr holen sollten, unterließen dies aber aus Angst vor Scherereien für den Wirt. Sie beruhigten sich, der Bewusstlose schlafe nur seinen Rausch aus. Die Jugendlichen brachten Lukas W. in die stabile Seitenlage und versuchten, ihn zum Erbrechen zu bringen. Erst als der Teenager gegen 7 Uhr blau anlief, holten sie den Notarzt. Da war der Schüler bereits klinisch tot.

Zwei Frauen riefen bei Aytac G. an. "Irgendwer meinte, wir sollen ihn benachrichtigen", sagt die damals 16-jährige Kellnerin Silvana B. "Wir wollten irgend etwas machen, nicht einfach so da stehen." So erfuhr der Wirt vom Zustand seines Gegners. Die vierjährige Tochter von Aytac G.'s damaliger Freundin beschrieb ihrer Mutter, wie ihr Babysitter die Nachricht aufnahm: Er sei aufgeregt hin und her gelaufen und habe "Scheiße" gerufen.

Wirt wollte das Wettsaufen totschweigen

Aytac G. fürchtete um die Bar, in die er gerade 80.000 Euro investiert hatte. Darum schärfte er den Jugendlichen ein, über das Wetttrinken zu schweigen. Sie sollten sagen, Lukas sei schon betrunken ins "Eye T" gekommen - berichtet Silvana B. dem Gericht. Sie habe sich erbärmlich gefühlt, dem Opfer dies anzudichten, sagt die junge Frau. Doch sie hoffte, Lukas W. würde aus dem Koma erwachen. Als er fünf Wochen später starb, entschloss sie sich, die Wahrheit zu sagen: "Das war eine moralische Pflicht."

Noch immer wirken die Jugendlichen traumatisiert. Sinnlos und dumm sei das Ganze gewesen, sagt der 20-jährige Edis B. Er wurde im vergangenen Jahr gemeinsam mit "Matze" und Silvana wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zu Sozialstunden beziehungsweise einem Erste-Hilfe-Kurs verurteilt. Im Zeugenstand sagt Edis B., aus Rücksicht auf seine krebskranke Mutter wünsche er keinen Kontakt zum Angeklagten. Das wird Aytac G. verstehen: Dessen eigene Mutter starb wegen der Aufregung um ihren Jüngsten mit 61 Jahren an einem Herzinfarkt.

Mutter wusste nichts von der tödlichen Wette

Bei der Mutter von Lukas W. hat sich der Angeklagte nicht entschuldigt. "Ich denke", sagt Jutta W. über ihren Sohn, "dass er bei einer normalen Trinkgeschwindigkeit nicht diese Grenze erreicht hätte." Dem Gericht berichtet die 55-Jährige von "heftigen Auseinandersetzungen", die sie mit dem Neuntklässler geführt hatte, weil ihr nicht entgangen war, dass "Lukas gelegentlich mehr getrunken hatte, als ihm gut tat." Von dem Wetttrinken dagegen wusste die alleinerziehende Mutter einer heute 16-jährigen Tochter nichts: "Weil er geahnt hatte, wie ich darauf reagiere." Sie nahm damals an, ihr Sohn übernachte bei einem Freund.

Sehr wahrscheinlich wird das Gericht Aytac G. zu einer Haftstrafe von mindestens drei Jahren verurteilen, schließlich hat der Bundesgerichtshof die Urteile gegen die drei Jugendlichen nicht moniert. In diese schrieben die Richter, Lukas W. habe zwar in das Wetttrinken und in einen zumindest vorübergehenden pathologischen Zustand eingewilligt. Dieser Vertrag sei jedoch sittenwidrig und damit nichtig. Unabhängig von der Täuschung über die Bedingungen des Wetttrinkens habe eine Körperverletzung vorgelegen.

Die Verteidigung argumentiert, der Angeklagte habe durch seine eigene Betrunkenheit nicht absehen können, dass der von seinem Gegner konsumierte Alkohol zur Atemlähmung und damit zum Tode führe. Darauf wird sich das Gericht wohl kaum einlassen. "Wer auch mit Hilfe eines anderen weggehen kann, ist nicht steuerungsunfähig", äußerte der Vorsitzende Richter bereits. Das Strafbare von G.'s Tun habe in dem Moment begonnen, "als dem Angeklagten bewusst wurde, dass der Junge zunehmend betrunkener wird."

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