Es ist der Auftritt eines anscheinend schwerkranken Mannes: Heftig atmend kommt Thomas Wolf die Treppe aus seiner Arrestzelle in den Gerichtssaal gestiegen. Er geht langsam, als ob ihm jeder Schritt schwerfällt. Die Hände auf den Rücken, die Füße mit Kabelbinder gefesselt, betritt er am Dienstagmorgen den Schwurgerichtssaal des Wiesbadener Landgerichts. Sofort sind Kameras auf ihn gerichtet, Fotoapparate klicken. Es ist 9.13 Uhr, als Thomas Wolf, einst meistgesuchter Schwerverbrecher Deutschlands, die Fesseln gelöst werden.
Minutenlang ist der 58-Jährige nun dem Blitzlichtgewitter ausgesetzt. Es wirkt, als würde ein exotisches Tier aus dem Zoo vorgeführt. Dabei gibt der Schwerverbrecher den Biedermann: Gekleidet in weißem Trachtenhemd, olivfarbener Strickweste mit Zopfmuster und Hornknöpfen, grauen Wollsocken und Gesundheitssandalen nimmt Wolf auf einer schmalen Bank platz - eine Reihe hinter seinem Verteidiger, dem Frankfurter Strafrechtler Joachim Bremer. Diese Tatsache wird das Gericht an jenem Dienstagvormittag noch für mehrere Stunden beschäftigen. Doch noch ist es nicht soweit. Weil ein Gutachter im Stau steht, beginnt der Prozess mit mehr als 30-minütiger Verspätung. Zeit für Prozessbeobachter, sich Wolf genau anzusehen. Über seine Kleidung wird gesprochen, auch über sein Erscheinungsbild. Müde wirkt er, alt. Aber nicht abgemagert, wie es sein Verteidiger sagte. Wolf habe im Gefängnis etwa 30 Kilo Gewicht verloren, hatte Bremer im Vorfeld gesagt. Davon ist nichts zu sehen.
Flankiert wird Wolf von bis zu sechs Polizisten und Justizwachmeistern. Denn der 58-jährige, so lässt es das große Polizeiaufgebot im Gericht vermuten, ist immer noch ein hochgefährlicher Mann. Zwar ist er wegen einer fortgeschrittenen Borreliose-Erkrankung geschwächt und nur für drei Stunden am Tag verhandlungsfähig. Dennoch scheint das Landgericht in Alarmbereitschaft: Vor Prozessbeginn soll Wolf angekündigt haben, im Gerichtssaal eine Geisel nehmen zu wollen. Von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen war die Rede.
Lächeln ist ihm nicht vergangen
"Aufgrund der besonderen Gefährdungseinschätzung", gelte eine erhöhte Sicherheitsstufe, betont Richter Jürgen Bonk zu Verhandlungsbeginn. Nicht wegen der angeblichen Drohung, Geiseln nehmen zu wollen. Wolf habe in der Vergangenheit zu viele Gelegenheiten zur Flucht genutzt, sagt Staatsanwältin Maria Klunke. Aus diesem Grund seien Beamte im und vor dem Saal postiert, deswegen sitzen Polizisten im Zuschauerraum. Sie stehen per Funk miteinander in Kontakt.
Wolf selbst zeigt seine schwache Seite, wenn die Blicke der Prozessbeobachter auf ihn gerichtet sind. Er seufzt, reibt sich immer wieder mit den Händen durch sein Gesicht und schließt die Augen, als müsse er Kraft sammeln. Ab und an nimmt er mit zittriger Hand einen Schluck Wasser aus einem Pappbecher, den ihm Justizbeamte bereitgestellt haben. Ein Päckchen Taschentücher liegt ebenfalls parat, außerdem hat Wolf eine dünne Kladde mit Papieren vor sich auf dem Tisch.
Wenn er sich unbeobachtet fühlt, ist Wolf jedoch anzumerken, dass er hellwach ist, alles um ihn herum registriert. Selbst das Lächeln ist ihm nicht vergangen, als er ein paar Worte mit seinem Verteidiger wechselt. Dann sitzt auf der Anklagebank ein netter älterer Herr. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Mann einmal Deutschlands meistgesuchter Verbrecher war. Zur Jahreswende 1999/2000 nutzte er einen Hafturlaub und kehrte nicht mehr ins Gefängnis zurück. Kurz danach überfiel er mit einer Bombenattrappe ausgerüstet eine Bank in Hamburg, drei Jahre später erleichterte er eine Bank im niederländischen Eindhoven nach demselben Muster. 2009 entführte er die Ehefrau eines leitenden Bankangestellten aus Wiesbaden und erpresste 1,8 Millionen Euro, bis er im Frühsommer darauf gefasst wurde. Diese drei Fälle sollen vor dem Landgericht Wiesbaden verhandelt werden.
Anwalt will neben Wolf sitzen
Doch bevor überhaupt die Anklage verlesen wird, meldet sich Wolfs Verteidiger zu Wort. Er ist nicht damit einverstanden, dass sein Mandant hinter und nicht "wie seit Jahrzehnten in deutschen Gerichten üblich", neben ihm sitzen darf. "Eine ungestörte Kommunikation zwischen Mandant und Verteidigung ist so nicht möglich", moniert Bremer und fordert, diese Sitzordnung aufzuheben. Es folgt eine Unterbrechung. Es ist die erste von drei Pausen, die diesen Verhandlungstag zäh werden lassen. Als das Gericht den Antrag Bremers ablehnt, beantragt dieser wieder eine Pause. Er müsse sich mit seinem Mandanten beraten.
Dann wieder ein Antrag des Verteidigers: Er lehnt die drei Berufsrichter sowie beide Schöffen ab. Da sie seinen Antrag auf Umstellung der Sitzordnung abgelehnt haben, sei die Unparteilichkeit des Gerichts nicht mehr gegeben. Zudem sei es das Recht des Angeklagten, neben seinem Anwalt zu sitzen und bei Bedarf in die Akten blicken zu können. "Sonst müssten wir im Prinzip nach jedem von einem Zeugen gesprochenen Satz zur Beratung unterbrechen" formuliert es Bremer. Das sei praktisch kaum möglich - auch, weil sich Bremer dazu jedes Mal zu seinem Mandanten umdrehen müsste, der zwischen Justizbeamten sitzt. "Außerdem kann dann jedes Wort mitgehört werden, eine ungestörte Kommunikation ist nicht möglich", beschwert sich Bremer. Fluchtgefahr sei bei Wolf ohnehin nicht gegeben, meint der Anwalt. "Wie stellen Sie sich das vor?", fragt er die Kammer. "Dass Herr Wolf über den ein Meter breiten Verteidigertisch flankt, eine Rolle durch den Saal macht und sich mit bloßen Händen einen Prozessbeteiligten packt? Das ist völlig abwegig."
Prozess wird vertagt
Doch allein die Anwesenheit von sechs Beamten neben seinen Mandanten spricht dafür, dass das Gericht sehr wohl befürchtet, Wolf könne flüchten. Auch die Staatsanwältin fürchtet dies. "Wir haben hier einen Angeklagten sitzen, der nichts mehr zu verlieren hat", betont sie.
Es folgt eine weitere Unterbrechung, die letzte an diesem Tag. Es ist kurz vor elf, nach einer Stunde möchte das Gericht wieder zusammenkommen. Vielen Prozessbeobachtern ist zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass nicht mehr viel passieren wird an diesem Dienstag. Wolf ist pro Tag nur drei Stunden verhandlungsfähig, davon sind bereits knapp zwei verstrichen.
Selbst die Anklage ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht verlesen worden. Sie wird es auch nicht mehr. Der Prozess wird vertagt. Bis kommenden Freitag soll über den Befangenheitsantrag gegen die Kammer entschieden werden. Vielleicht kann dann endlich auch die Anklage gegen den Verbrecher und Biedermann verlesen werden.