Die fünfjährige Lea-Sophie, ein blond gelocktes Mädchen mit dunklen Kulleraugen, ist verhungert und verdurstet. Das ist nun amtlich. Die Kleine wog zuletzt nur noch 7,4 Kilogramm. Das ist soviel, wie ein gut genährter Säugling auf die Waage bringt. Das Normalgewicht eines fünfjährigen Kindes liegt zwischen 15 bis 20 Kilo. "Spuren von Gewalteinwirkung seien nicht erkennbar", betont Oberstaatsanwalt Christian Pick und widerspricht damit Medienberichten.
Der Nachbar weint
Kieler Straße 15, Schwerin-Lankow. Eine trostlose Plattenbausiedlung. Hier lebten Nicole G. (23) und Stefan T. (26) - beide arbeitslos - unterm Dach im vierten Stock mit ihren beiden Mischlingshunden, vier Katzen und ihren Kindern Lea-Sophie und dem zwei Monate alten Justin. Der Junge ist inzwischen bei Pflegeeltern untergebracht worden. Nachbar Horst S. (67) weint, als er gefragt wird, ob er Lea-Sophie kannte. "Ich habe das Mädchen nur einmal gesehen", sagt der Rentner. "Ihre Eltern sind eines Abends nach Hause gekommen. Sie haben die beiden Hunde die Treppe hoch getragen. Die Kleine haben sie über die Stufen nach oben gezerrt." Horst S. unternahm nichts, wollte nicht noch mehr Ärger mit Nicole G. und Stefan T. "Die haben sich an nichts gehalten, auch an die Hausordnung nicht", sagt er und zuckt mit den Achseln.
Auch die Verwandtschaft von Lea-Sophie ist ratlos. Vor etwa zwei Jahren habe sie Lea-Sophie das letzte Mal gesehen, erzählt Rita T., die Stiefmutter von Stefan T.. "Ihre Ärmchen waren dünn wie Streichhölzer." Unternommen habe sie nichts. Das Mädchen war eine Frühgeburt und schon immer sehr dünn. Aber sie hatte rosige Bäckchen und hat auch normal gegessen." Bei diesem Besuch vor zwei Jahren habe es Streit gegeben, erinnert sich Rita T. "Die wollten einfach nicht arbeiten, waren faul und haben nur auf dem Sofa gesessen. Wir haben ihnen deutlich gesagt, dass uns das nicht gefällt." Seitdem habe sie nichts mehr von Nicole G. und Stefan T. gehört.
Die Urgroßmutter ist ratlos
Auch die Urgroßmutter von Lea-Sophie, die Großmutter von Nicole G., hat keine Erklärung. "Ich habe Lea-Sophie nur ein einziges Mal gesehen, da war sie noch sehr klein." Vor wenigen Wochen sei "Nici" noch einmal zu Besuch gekommen. "Sie hatte nur Justin bei sich. Wo Lea-Sophie war, habe ich nicht gefragt. Vielleicht war sie im Kindergarten." Die Urgroßmutter, die ihren Namen nicht veröffentlichen möchte, schüttelt mit dem Kopf. "Nici war eine sehr liebe Enkelin", sagt sie.
Auch die Stadt Schwerin hat keine Antwort auf die Frage, warum Lea-Sophie sterben musste. Die Familie sei dem Jugendamt bekannt gewesen, lautet die magere Auskunft. Die Sozialarbeiten hätten "nach den gesetzlichen Vorschriften" gehandelt. Unterdessen behauptete ein Nachbar, dass er den Mitarbeitern vom Jugendamt die Tür geöffnet hätte. "Ich habe den Leuten vom Amt die Haustür geöffnet. Da waren die Frau und der Mann aber gerade aus dem Haus", sagte der Mann der Deutschen Presseagentur. Mit anderen Worten: Die Mitarbeiter vom Jugendamt haben Lea-Sophie unter Umständen gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Stadt Schwerin will auch diese Vorwürfe nicht kommentieren.
Die Schweriner Jugendamtsleiterin Heike Seifert soll vor etwa einem Jahr im Sozialausschuss der Stadtvertretung Alarm geschlagen haben, sagte die langjährige Vize-Vorsitzende des Landeselternrates Verena Riemer der dpa. "Ich kann nicht garantieren, dass wir nicht auch in Schwerin ein totes Kind haben werden", habe Seifert gewarnt, weil durch die Mittelkürzungen die Mitarbeiter des Jugendamtes völlig überlastet seien. Nach Angaben von Kinderschutzorganisationen betreut ein Jugendamtsmitarbeiter im Schnitt 150 Fälle. Seifert war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Riemer sagte der dpa: "Es haben alle Verantwortlichen die Katastrophe kommen sehen und nichts getan, um sie abzuwenden.
Ähnlich war es im Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen. Der Junge war im Oktober 2006 im Kühlschrank seines Ziehvaters tot aufgefunden worden. Das Kind wies zahlreiche Knochenbrüche auf. Auch in diesem Fall war das Jugendamt eingeschaltet, reagierte jedoch nicht. In Bremen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Mitarbeiter des Jugendamtes. In Schwerin, ließ die Staatsanwaltschaft mitteilen, bestünde für Ermittlungen gegen das Jugendamt "derzeit keinerlei Veranlassung".