Die Dachgeschosswohnung des Mehrfamilienhauses in der Severinsstraße liegt in Trümmern - verteilt auf der Straße. Von ihren Bewohnern fehlt zur Stunde noch jede Spur. Niemand weiß, ob die beiden Mieter in der Hausnummer 230, direkt links neben dem zerstörten Stadtarchiv, noch leben. Ihr Aufenthaltsort ist nicht bekannt. Haben sie sich zum Zeitpunkt des Einsturzes in ihren Wohnungen aufgehalten? Konnten sie sich retten? Nur eins ist klar: Falls die Männer unter dem aufgetürmten Schutt liegen, sind sie vermutlich tot. "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dort noch einen Menschen lebend herausholen, geht gegen null", sagt Feuerwehrdirektor Stephan Neuhoff auf der Pressekonferenz am Mittwoch Vormittag und senkt den Blick. "Natürlich hofft man auf ein Wunder - bisher haben wir aber keine Lebenszeichen wahrnehmen können." Kein Schrei, kein Hilferuf. Nichts.
Die traurige Wahrheit: Selbst wenn die Behörden wüssten, ob und wo sich Menschen unter den Trümmern befinden, sie könnten ihnen nicht helfen. Eine Bergungsaktion wäre zu gefährlich für die Hilfskräfte. Der Boden ist extrem instabil und dünn, an einigen Stellen so dünn wie eine Handbreite. "Wir würden einbrechen, bevor wir die Verletzten erreicht hätten", sagt Neuhoff. Und so hat die Sicherung der Unfallstelle zunächst obere Priorität.
Bergung beginnt Tage später
Immer noch steht ein großer Betonmischer an der Rückseite des ehemaligen Stadtarchivs - wie auch schon die ganze Nacht. Über ein Förderband wird das körnige Material zu einem Pumpwagen und von dem in einen Spalt im Boden befördert, wo es ein weiteres Absacken des Erdreichs verhindern soll. Der Wind bläst winzig kleine Teile des Betons in die Augen der wenigen Bauarbeiter, die die Arbeiten überwachen. Weiter entfernt begutachtet ein Mann in einer neon-orangenen Jacke den Schutthaufen. Er trägt einen weißen Helm. Wären über ihm nicht die beiden halbzerstörten Häuser mit den offen stehenden Wohnungen, dem Bade- und dem Schlafzimmer mit dem intakten Bücherregal - dann sähe es hier fast so aus wie an den vielen anderen Baustellen in Köln: Gewöhnlich. Doch was harmlos aussieht, ist in Wirklichkeit immer noch hoch dramatisch: In die Grube, in der gerade eine Weichenanlage für die schon lange geplante Nord-Süd-Trasse der U-Bahn gebaut wird, dringt immer noch Wasser. Einige Meter entfernt droht ein Kran einzustürzen, die zum Teil eingebrochenen Häuser sind ebenfalls gefährdet und müssen so schnell wie möglich abgerissen werden. Erst am Donnerstagabend, schätzt die Feuerwehr, werde man die Unfallstelle so weit stabilisiert haben, um mit der Bergung des Schutts und damit auch möglicher Opfer beginnen zu können.
Was bei der Katastrophe am Kölner Waidmarkt passierte, ist mittlerweile weitgehend geklärt. Binnen weniger Minuten brachen Erde und Wasser in den nahegelegenen U-Bahn-Schacht. Die Erdmassen bewegten sich so schnell und gewaltig, dass sich hinter ihnen ein Krater bildete, in den das Stadtarchiv und die zwei Nachbargebäude einstürzten. "Praktisch wurde ihnen der Boden entzogen", sagt Stephan Neuhoff von der Kölner Feuerwehr. "Es geht hier um eine Menge Material. Der große Kiesberg in der Baustelle ist deutlich erkennbar." Was den Erdrutsch verursacht habe, ist noch nicht genau geklärt. "Die Hinweise verdichten sich allerdings, dass es einen Zusammenhang zum U-Bahn-Bau gibt", sagt Stadtdirektor Guido Kahlen.
"Gebäude war intakt"
Die Setzrisse im Keller des Stadtarchivs allerdings, auf die ein ehemaliger Abteilungsleiter seinen Arbeitgeber vermehrt hingewiesen haben will, scheiden als Ursache offenbar aus. "Das Gebäude selbst war vollkommen intakt. Das hat uns erst im Dezember ein Gutachter bestätigt.", sagt der zuständige Kulturdezernent Georg Quander. "Nur: Das Gebäude kann noch so stabil sein, wenn auf einmal unten drunter der Boden wegsackt. Da können die besten Statiker nichts machen." Auch Ulrich Mann, technischer Sachverständiger bei der Zorn Ingenieursgesellschaft, sieht das so. Seine Firma berät die Kölner Verkehrsbetriebe beim Bau der Nord-Süd-Bahn. "Zu dem Unfall wäre es auch gekommen, wenn die Risse nicht da gewesen wären. Das konnte man im Haus selbst nicht vorhersehen."
Während der Bauarbeiten an der neuen unterirdischen Bahnstrecke war es immer wieder zu Pannen und Unfällen gekommen. Der Spektakulärste ereignete sich vor fünf Jahren, als der Turm der St. Johann Baptist Kirche, immerhin über 1000 Jahre alt, um 70 Zentimeter zur Seite kippte. Der als "schiefe Turm von Köln" bekannt gewordene Turm wurde ein Jahr später wieder aufgerichtet. Die Kosten dafür trugen die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB).
400 Millionen Euro Versicherungswert
Diesmal könnte es noch teurer werden, sollte die KVB für das eingestürzte Stadtarchiv juristisch verantwortlich gemacht werden können. Allein der Versicherungswert der im Stadtarchiv gelagerten und derzeit verschütteten Dokumente wird auf 400 Millionen Euro geschätzt. "Vom ideellen Wert einmal abgesehen", sagt Kulturdezernent Quander. "Es geht um 30 Regalkilometer an Dokumenten, die teilweise nicht gesichert sind. Kaiserliche Bullen aus dem 10. Jahrhundert, handschriftliche Geschichtsdokumente - das ist alles möglicherweise verloren."
"Wir werden uns aufgrund der Tragweite dieses Unfalls Gedanken machen müssen, ob es in Zukunft Sinn macht, in einer so alten Stadt wie Köln weitere unterirdische Bauvorhaben anzustrengen", sagte Oberbürgermeister Fritz Schramma am Vormittag auf einer Pressekonferenz. Er forderte eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle. "Auch andere gefährdete Stellen sollten jetzt untersucht werden. Mein eigenes Rathaus schließe ich da ausdrücklich mit ein", sagte er. In der Vergangenheit war es dort, aber auch an anderen Orten, im Zusammenhang mit dem U-Bahn-Bau immer wieder zu Rissen im Fundament der angrenzenden Gebäude gekommen.
"Mehr als kontraproduktiv"
Über 100 solcher Vorfälle hat es nach KVB-Angaben in der Vergangenheit gegeben. Die Bauarbeiten an der Strecke werde man dennoch nicht unterbrechen, sagte der Vorstandssprecher der KVB, Jürgen Fenske. "Wir haben das heute Vormittag diskutiert. Das wäre mehr als kontraproduktiv", sagte er. Das Unternehmen habe in der Vergangenheit aber alles getan, um Zwischenfälle im Zusammenhang der Bauarbeiten zu verhindern. Diese Anstrengungen werde man nun noch verstärken. Eine akute Gefährdung an anderer Stelle sehe er nicht. "Ganz ausschließen kann ich es aber natürlich auch nicht."
Die Beseitigung der Schäden am Kölner Waidmarkt wird sich jedenfalls noch einige Zeit hinziehen. Feuerwehrdirektor Stephan Neuhoff: "Wir sprechen hier mindestens von mehreren Wochen."