Myanmar Vom Tag, als Oos Welt unterging

  • von Manuela Pfohl
Eine kleine Hütte, ein kleines Feld und eine kleine Familie. Das war die Welt von Ko Zaw Oo. Bis zu dem Tag, an dem der große Sturm über Myanmar fegte. Jetzt sitzt der Farmer im Stützpunkt der Hilfsorganisation World Vision und hat nichts mehr - Keine Hütte, kein Feld, keine Familie.

Immer wieder sieht der 35-Jährige diese Bilder vor sich: Den Moment, als eine 15 Fuß hohe Druckwelle in das Dorf o-Opor in der Latputa-Region im Ayerawaddy Delta einbricht. Er sieht, wie die Bambushütten der Nachbarn und auch seine eigene in sich zusammenfallen und fortgespült werden, wie die Bäume an der Straße wegknicken, als seien sie Strohhalme.

Und er sieht sich selbst, wie er hastig seine beiden jüngsten Kinder auf die Arme nimmt. Wie er sich mit ihnen an einem Kokosnussbaum festklammert und versucht, dem Sturm zu trotzen, sein letzter Blick auf seine Frau, die mit dem Erstgeborenen an der Hand plötzlich vom Wasser verschluckt wird, der letzte Blick auf sein vierjähriges Kind, das der verfluchte Sturm mitreißt, weil er einfach keine Kraft mehr hat, es zu halten.

Er sieht sich, wie er irgendwann völlig betäubt auf dem Boden sitzt, sein regloses zweijähriges Kind im Arm, wie er vor Angst schreien möchte, weil er fürchtet, dass auch sein Jüngstes die Wut des Zyklons nicht überlebt hat, wie er es in Panik immer wieder schüttelt und wie es plötzlich die Augen aufschlägt.

Herz aus dem Leib gerissen

Es ist, als würde Ko Zaw Oo jede grausame Sekunde vom Ende seiner Welt noch mal erleben. Er sagt: "Es ist, als hätte mir jemand das Herz aus dem Leib gerissen." Seine Frau und die beiden Kinder gehören nun zu den 22.000 Toten und 40.000 Vermissten, die die offizielle Statistik der Militärregierung aufgelistet hat.

Unabhängige Beobachter gehen von bis zu 100.000 Opfern aus. Im benachbarten Pyinsalu sind von 4000 Einwohnern nur 400 übriggeblieben. In seinem 300 Seelen-Dorf haben gerade mal 70 Menschen überlebt. Alle hatten gewusst, dass ein Sturm kommen würde. "Aber die schreckliche Welle, die dann kam, hat keiner von uns erwartet", sagt Ko Zaw Oo. Jetzt gibt es den Ort, in dem er fast sein ganzes Leben lang zuhause war, nicht mehr. Nur Wasser, Schlamm, Ruinen und Leichen sind davon übriggeblieben.

Die leblosen Körper treiben mit ausgebreiteten Armen und Beinen wie große dunkle Plastikpuppen in stinkender Jauche übers Land. Dort, wo eigentlich Reis wachsen sollte. Sie verfangen sich im Gestrüpp ausgerissener Bäume und zwischen dem Hausrat weggespülten Familienglücks. Frauen, Kinder, Männer. Jemand müsste ihnen in die aufgedunsenen Gesichter schauen, um ihre Namen zu registrieren. Sie begraben, ehe sie zur Gefahr für die Lebenden werden. Für die Angehörigen da sein, wenn sie begreifen, dass nichts mehr sein wird, wie es vor der Sintflut war.

Wo sollen sie hin?

"Es wird wahrscheinlich eine große Anzahl von Waisen geben in Latputa", fürchtet Ko Soe Kyaw Kyaw, Regionalleiter von World Vision nach einer ersten Lageeinschätzung vor Ort. "Viele Kinder aus den umliegenden Dörfern sind hier in der Stadt zur Schule gegangen. Wo sollen sie jetzt hin, wo ihre Dörfer und ihre Familien nicht mehr da sind?"

Kyi Minn, der seit Freitag ein Dutzend Kilometer entfernt als World Vision-Gesundheitsberater im Katastrophengebiet im Irrawaddy Delta unterwegs ist, versucht zu helfen, wo die Lage scheinbar aussichtslos ist. Auch hier liegen unzählige Leichen auf den Straßen. "In Yangon, wo ich stationiert bin, erzählen mir die Alten, dass das das Schlimmste ist, was sie je gesehen haben", erzählt der Arzt. "Tatsächlich bin ich jetzt, Tage nach dem Sturm, immer noch umgeben von zerbrochenen Hausdächern und entwurzelten Bäumen. In Myanmar sind wir an tropische Stürme gewöhnt, also konnten wir kaum glauben, dass dieser so viel schlimmer sein sollte, als die der Vergangenheit."

Frühwarnung hätte Leben gerettet

2004 hatte der Tsunami Bäume und Mangroven entwurzelt. Deshalb gab es jetzt noch weniger Schutz vor dem Sturm. Kyi Minn ist überzeugt: "Ein Frühwarnsystem, eine Vorbereitung auf mögliche Katastrophen hätte Leben gerettet."

Fehleranalyse, die für die Helfer vor Ort zunächst allerdings zweitrangig ist. Jetzt gilt es, den Überlebenden, die alles verloren haben, zu helfen, so gut es unter den schwierigen Umständen einer Militärdiktatur eben geht. Zwar versuchen die Nachbardörfer, die einigermaßen heil davon gekommen sind, den Opfern mit dem Nötigsten beizustehen. Doch in den meist armen Regionen sind solcher Bereitschaft enge Grenzen gesetzt. Ohne internationale Hilfe droht den Überlebenden nach dem Zyklon eine zweite Katastrophe.

Noch mal neu anfangen

Größtes Problem aus Sicht Kyi Minns: Wo Dörfer im Wasser untergehen, werden Seen und Frischwasserquellen und -brunnen kontaminiert. Flutwasser ist immer auch ein Risiko, weil es schnell zu einer Brutstätte für Krankheiten wird, die durch Moskitos hervorgerufen werden. "Wir hören auch Geschichten von Leuten, die verdorbenen Fisch essen, weil sie nichts anderes zu essen haben." World Vision verteilt deshalb Wasserkissen und Wasserreinigungstabletten, Moskitonetze und Decken, Reis und andere Lebensmittel. Vorübergehend. So lange die vor dem Sturm gelagerten Vorräte noch reichen. Höchste Zeit, dass Nachschub kommt.

Ko Zaw Oo wird noch mal ganz von vorn anfangen müssen. Eine Hütte bauen, ein Feld anlegen, auf die Zukunft hoffen und darauf, dass er irgendwann die Bilder aus seinem Kopf kriegt, vom Tag, an dem seine Welt unterging.

Liebe Leser, wie Ihnen sicher schon aufgefallen ist, gibt es für das südostasiatische Land verschiedene Begriffe: Birma, Burma, Myanmar. In vielen deutschen Medien wird es Birma genannt, vereinzelt auch Burma, wie im englischen Sprachraum üblich. Seit 1989 heißt es offiziell Union Myanmar. So wird es von den Vereinten Nationen und von der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Einige Länder sind aus Protest gegen das dort herrschende Militärregime bei Birma/Burma geblieben, wie etwa die USA und Australien. stern.de hat sich entschieden, das Land Myanmar zu nennen.

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