Vor ihnen sind ein paar Gletscherspalten zu erkennen, über ihnen nichts als gleißende Schneefelder: das Silberplateau am Nanga Parbat. Weit links erhebt sich, wie ein eigenständiger Gipfel aus dunklem Gestein, einer der beiden Silberzacken, rechts dahinter, viel kleiner, der zweite Silberzacken. Dazwischen der Silbersattel - den müssen Walter Nones und Simon Kehrer erreichen, um ins Leben zurückzukehren. Nach einer Woche in der Rakhiot-Wand am Nanga Parbat, einer ebenso schwierigen wie gefährlichen Route, steigen sie auf dieses riesige Schneefeld aus. Endlich!
Nones, ein Trentiner, und Kehrer, Südtiroler, mussten ihren Kameraden Karl Unterkircher tot im ewigen Eis zurücklassen. Zu dritt hatten sie es gewagt, die Nordwand des Nanga Parbat dort anzupacken, wo sie am steilsten ist. Eine Wand, mehr als 2000 Meter hoch und im Mittelteil durchzogen von einer Serie von Eisbarrieren, von denen immer wieder Stücke abbrechen, groß wie Hochhäuser.
Den Aufstieg hatten die Bergsteiger am 14. Juli begonnen. Sie wagten die Erstbegehung im Alpinstil, ohne die geplante Route zuvor mit Hochlagern und Fixseilen auszustatten. Karl Unterkircher war der Kopf des Unternehmens, ein Bergführer aus dem Grödnertal, dem mit der Erstbegehung des Nordostpfeilers am Gasherbrum II und der anschließenden Überschreitung dieses Achttausenders im Karakorum 2007 eine bergsteigerische Glanzleistung gelungen war. Ähnlich wollte er nun den Nanga Parbat bezwingen: Erstbegehung der zentralen Rakhiot-Wand, Aufstieg zum Gipfel und Abstieg - zum Teil auf Skiern - über die flachere Diamirflanke.
Unrettbar verschollen
Am zweiten Tag in der gefährlichen Wand aber - Unterkircher war voraus, um den Weiterweg zu erkunden - geschieht das Unglück. Er bleibt, unter Eis und Schnee begraben, unrettbar verschollen. Die anderen können über Satellitentelefon kurz Nachricht geben, dann bricht der Kontakt ab. Die Batterien sind leer.
Als feststeht, dass ihr Kamerad tot ist, steigen Kehrer und Nones weiter. Sie sind am gefährlichsten Punkt ihrer Route, auf jenem flacheren Schneehang, der wie eine Sprungschanze mitten in der Wand klebt. Unter ihnen senkrechte Eisabbrüche, hoch über ihnen ein gigantischer Sérak, ein Eisturm, der vom Silberplateau gespeist wird und ständig Brocken abwirft, die auf der Schanze aufschlagen. Auch der Weg zurück ins Basislager ist von Eislawinen bedroht, dazu extrem schwierig. Ihnen bleibt nur die Flucht nach oben. In einer Rechtsschleife um- gehen sie einen Felspfeiler, stellen ihr Zelt in einen steilen Schneehang.
Inzwischen sind Rettungsversuche angelaufen. Ein Hubschrauber ist trotz Nebel an die Wand herangeflogen. Aus Italien sind Bergsteiger aufgebrochen und haben die Märchenwiese am Fuße der Rakhiot- Wand erreicht, von wo aus sie das weitere Geschehen beobachten. In der Höhe, in der Kehrer und Nones biwakieren, ist die Luft zu dünn, der Helikopter kann zwar noch fliegen, nicht aber landen oder über den beiden stehen bleiben, um sie mit einer Winde zu bergen.
Abstieg über den Silbersattel
Beim dritten Anflug gelingt es, für die beiden Nahrungsmittel, Brennstoff und ein Satellitentelefon abzuwerfen, nachdem ein erster Sack mit Hilfsgütern verloren gegangen war. Nun sind die beiden vorerst versorgt, sie können den Wetterbericht einholen und sich mit dem Rettungsteam beraten. Der Rückweg über den Silbersattel und den Ostgrat - auf der Route, auf der am 3. Juli 1953 der legendäre Hermann Buhl erstmals zum Gipfel aufstieg - scheint damit gut möglich.
Zwar war es hier 1934 beim Abstieg der zweiten (erfolglosen) deutschen Nanga-Parbat- Expedition in einem Wettersturz zur Katastrophe gekommen, aber die Gruppe damals hatte keinen Brennstoff und keine Nahrung mehr - und keine Möglichkeit der Kommunikation. Willo Welzenbach, seinerzeit der berühmteste deutsche Bergsteiger, "Eispapst" genannt, verfasste einen Hilferuf an die Kameraden weiter unten, das Stück Papier aber erreichte sie erst, als neun Mann tot waren: drei Sahibs, Bergsteiger, und sechs Sherpas, Hochträger. Ein einziger Sherpa konnte sich nach Tagen im Schneesturm zu den Lebenden durchschlagen und Welzenbachs Worte der Verzweiflung überbringen: "Wir liegen seit gestern hier, nachdem wir Uli [Wieland] im Abstieg verloren haben. Sind beide krank. Ein Versuch, nach [Lager] 6 vorzudringen, misslang wegen allgemeiner Schwäche. Ich, Willo, habe vermutlich Bronchitis, Angina und Influenza. Bara Sahib [Merkl] hat allgemeines Schwächegefühl und Erfrierungen an Füßen und Händen. Wir haben beide seit sechs Tagen nichts Warmes gegessen und fast nichts getrunken. Bitte helft uns bald."
Der Zettel war am 10. Juli geschrieben worden. Am 14. Juli kam Ang Tsering wie aus dem Totenreich zurück und berichtete unten vom qualvollen Ende der Gruppe.
3500 Meter Abgrund
Auch ich geriet 1978, nach der ersten Alleinbesteigung des Nanga Parbat, in einen Wettersturz. Damals gab es noch keine Möglichkeit, sich per Satellitentelefon den Wetterbericht geben zu lassen. In Nebel und Schneetreiben wartete ich auf 7600 Meter Höhe im Zelt, rationierte Brennstoff und Proviant. Nach 48 Stunden des Hoffens, Dösens und Aufpassens konnte ich mich endlich orientieren. Der Nebel riss kurz auf, durch ein Wolkenloch sah ich bis ins Basislager: 3500 Meter Abgrund! Ich prägte mir Richtung, einzelne Fels- sowie Eisformationen ein und stieg geradewegs abwärts. Nach nur sechs Stunden teils extremer Eiskletterei war ich in Sicherheit.
Das 65. Opfer am König der Berge
14. Juli 2008 Karl Unterkircher startet mit seinen Kameraden zum Aufstieg durch die zentrale Rakhiot-Wand. Sie wagen die Erstbegehung im Alpinstil, ohne an der geplanten Route zuvor Hochlager anzulegen oder Seile anzubringen
15. Juli 2008 Die 2000 Meter hohe Rakhiot-Wand ist berüchtigt für die Eislawinen, die hier abgehen. Als Unterkircher voraussteigt, um den Weg zu erkunden, wird ihm einer der Abbrüche zum Verhängnis. Er bleibt, unrettbar, unter Schnee und Eis begraben. Seine Kameraden wählen den Fluchtweg nach oben zum Silberplateau. Sie warten auf gutes Wetter, um auf Skiern zum Mohrenkopf abzufahren
Simon Kehrer und Walter Nones haben einen längeren, aber weniger gefährlichen Abstieg vor sich. Und sie haben Skier dabei. Vom Silbersattel haben sie ideales Gelände, um bis zum Mohrenkopf abzufahren, wo 1934 Willy Merkl gestorben ist. Dorthin können ihnen die Retter entgegensteigen, wenn sie sich vom Hubschrauber an den Nordosthängen absetzen lassen. Das Gelände weiter unten ist unübersichtlich, voller Gletscherspalten, und ständig drohen Eislawinen.
Der Wissenschaftler Uli Luft hat 1937 eindringlich beschrieben, was er nach dem Abgang einer solchen Lawine in 6400 Meter Höhe vorfand: "Bedrückende Stille herrschte ringsum. Eine verwehte Spur zog wie ins Endlose gegen den Grat im Osten … Ich stehe einsam in der weiten Gletschermulde unter dem Rakhiot-Peak und starre fassungslos auf das Trümmerfeld einer Eislawine, unter der das Lager mit den Freunden zermalmt wurde."
Die höchste Wand der Erde
1970, bei unserer ersten Himalaya-Expedition, durchstiegen mein Bruder Günther und ich erstmals die schwierigste Wand des Königs der Berge. Sie ist mit 4500 Meter Höhe zugleich die höchste der Erde. Nach kurzem Gipfelglück am Abend des 27. Juni standen wir vor einem Abstieg, der zum schwierigsten Weg meines Lebens werden sollte. Weil sich mein Bruder nicht mehr über die extrem steile Rupalwand abzusteigen traute, führte ich ihn über die Diamirwand hinab. In 7800 Meter Höhe verbrachten wir eine Nacht im Freien, bei mehr als 30 Minusgraden! Mein Bruder war höhenkrank. Ich musste ihn so schnell wie möglich aus der Todeszone bringen. Einen Tag und eine halbe Nacht lang suchte ich zwischen Gletscherspalten und Eisabbrüchen nach einem Weg. Ich ging voraus, prüfte, ob der Weg weiter unten offen war, und lotste ihn so Stück für Stück den Berg hinunter. Eine zweite Biwaknacht verbrachten wir auf einer Felsleiste. Wieder ohne Schutz, ohne Essen. Wir waren ausgedörrt, unterkühlt, halluzinierten.
Das Buch
Reinhold Messner:
"Diamir - König der Berge"
Verlag Frederking & Thaler
39,90 Euro
Die Hoffnung, das Tal zu erreichen, kam mit dem ersten Morgenlicht wieder. Also kletterten wir weiter, unter Steinschlag, unter riesigen Séraks, durch zerrissene Gletscherströme. Ganz unten, als ich ein letztes Mal vorausgehen musste, kam er nicht nach. Ich ging zurück, schrie, suchte nach ihm. Er blieb verschollen. Erst 35 Jahre später tauchten seine Überreste auf. 3500 Meter talabwärts, so weit hatte sie der Gletscher getragen. Die Leiche Merkls wurde 1938 am Mohrenkopf gefunden. Und 2007, mehr als 70 Jahre nach der Lawinenkatastrophe, fanden Einheimische Reste der Expedition von 1934, die so siegessicher aufgebrochen war und so tragisch geendet hatte.