Hin und wieder passe ich auf den "Raum der Stille" im Hamburger Hauptbahnhof auf. Das ist ein nicht-konfessioneller Raum inmitten des Bahnhofsgewusels, in den man sich setzen kann, um mal runterzukommen, zur Besinnung zu kommen, zu sich zu kommen (eine Mupfel also, wir hatten das neulich).
Furchtbar viele Besucher haben wir nicht, was einerseits schade ist, andererseits gut, denn sonst wäre es kein Raum der Stille, sondern ein Raum der Unruhe, des ständigen Rein- und Rausgehens. Die Dienstzeit der Ehrenamtlichen dauert jeweils zwei Stunden, und wenn gerade niemand meine Hilfe braucht, nutze ich die Zeit zum Lesen oder Schreiben oder E-Mail-Checken oder Facebooken.
Nach fünf Minuten wurde ich hibbelig
Neulich dachte ich: Ist doch komisch. Ich sitze hier im Vorraum, um anderen das Abschalten zu ermöglichen, bin aber selbst die ganze Zeit mit irgendwas beschäftigt. Ich mache jetzt einfach mal zwei Stunden: nichts. Gar nichts. Nur sitzen und die Zeit vergehen lassen, ohne sie mit etwas Sinnvollem (Hundevideos, Sudoku) oder Sinnlosem (Katzenvideos, der neue Judith Hermann) zu füllen.
Nach fünf Minuten wurde ich hibbelig. Es gäbe so viel zu erledigen! G. wartet noch auf eine Antwort, ich könnte auf My Hammer nach einem Elektriker suchen, habe ich eigentlich …? Nein. Durchhalten. Nach einer Stunde dachte ich: Jetzt reicht es eigentlich auch, nur ein kurzer Blick aufs Handy … Oh. Erst zehn Minuten um.
Meike Winnemuth
Die Bestsellerautorin ("Das große Los") schreibt wöchentlich im stern. Und freut sich auf Sie. Was bewegt Sie gerade? Tauschen Sie sich mit unserer Kolumnistin aus: www.facebook.com/winnemuth.
Wie schwer es ist, einfach still dazusitzen und nichts zu tun, außer den Gedanken zu lauschen, die einem durchs Hirn galoppieren, das war kürzlich auch Thema einer amerikanischen Studie (wir haben überhaupt viel zu wenige amerikanische Studien hier in der Kolumne, habe ich gedacht, als ich da so saß und nichts tat). Probanden sollten zwischen 6 und 15 Minuten in einem leeren Zimmer sitzen und sonst nichts. Sie fanden es nicht so doll. Sie fanden es sogar derartig unerträglich, dass zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen sich lieber freiwillig per Knopfdruck einen leichten Elektroschock verpassten, als gar nichts zu tun. Hauptsache, irgendwas passiert.
Probieren Sie es aus!
Wenn Sie jetzt den Kopf schütteln und sagen, wo ist das Problem, Nichtstun ist doch puppeneinfach: Bitte mal auf die Website www.donothingfor2minutes.com gehen und den Wellen lauschen. Wenn man innerhalb von zwei Minuten Maus oder Tastatur berührt, beginnt der Countdown von vorn. Es werden die längsten zwei Minuten Ihres Lebens, versprochen.
Denn was all die vielen Titelgeschichten und Bücher über unsere oh so hektische Zeit, die schleunigst entschleunigt gehört, meist verschweigen: Wir haben unfassbar viel Zeit – wir ertragen sie nur nicht. Jedes Vakuum muss zugeschüttet werden. Schon Kindern wird Langeweile systematisch ausgetrieben: Häng nicht so rum! Spiel doch was! Doch ob als Kind oder Erwachsener: Wenn man die Langeweile nicht betäubt, sondern zulässt, kommen die Dinge ins Rutschen. Ideen werden geboren, Entschlüsse reifen.
Ich habe mal ein Wochenende auf einem Schweigeseminar zwei Tage lang stumm eine weiße Wand angestarrt, auf Knien. Am Montag danach ging ich zu meiner Chefin und kündigte meinen tollen, gutdotierten Job, der mir nichts brachte und dem ich nichts brachte. Von Erkenntnissen dieser Art kann man sich normalerweise prima ablenken (notfalls sogar mit Katzenvideos), nicht aber, wenn man zwei Tage lang vor einer weißen Wand sitzt.
Meine Schicht ist um. "Na?" fragt meine Ablösung. "Viel Kundschaft heute?" "Nein", sage ich, "aber trotzdem viel los."
Die Kolumne ...
... von Meike Winnemuth finden Sie immer schon donnerstags im aktuellen stern. Diese Kolumne erschien in der vergangenen Woche, Heft Nr. 38.