Viele Menschen lehnen Zukunftsvisionen ab, nicht wenn sie unrealistisch sind, sondern dann, wenn sie heutige Ereignisse und Probleme mit aller Vehemenz weiterspinnen und zu Ergebnissen kommen, die sie als zu realistisch und damit bedrohlich empfinden. Forscher kennen diese Angst vor zu viel Realismus aus der Robotik: Wird ein neuer humanoider Roboter dem Menschen zu ähnlich, dann fürchten wir uns vor ihm. Sympathisch sind Androide nur so lange, wie wir sie eindeutig als nicht menschlich wahrnehmen. Kommen sie der Realität zu nahe, stoßen sie uns ab.
Warum ich das schreibe?
Die vierte Staffel der ARD-Krankenhausserie "Charité" fällt beim Publikum durch. Nach den ersten Folgen brach die Einschaltquote rasch und deutlich ein. Und im Gegensatz zu den ersten drei Staffeln spielt die vierte nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, genauer gesagt: im Jahr 2049. Die Probleme, die uns die Serie präsentiert, sind beängstigend.
Millionen Klimaflüchtlinge: eine beängstigende Vision
Dass sich zum Beispiel Millionen von Klimaflüchtlingen aus europäischen Nachbarländern auf den Weg zu uns machen, weil es bei ihnen zu heiß wird, ist eine erschreckende Vorstellung. Allerdings keine unwahrscheinliche. Wir schieben sie nur zu gerne beiseite.
Und die Zukunft birgt böse Überraschungen: Dann lauern dort sogenannte Schwarze Schwäne, gefährliche, bisweilen tödliche Veränderungen und Ereignisse, die meist völlig zufällig auftreten und sich nur schwer vorhersagen lassen. In der Serie breitet sich eine tödliche Mikrobe aus dem aufgetauten Permafrost von Grönland bis an unsere Meeresküsten aus. Als der Erreger erste Todesopfer fordert, muss der deutsche Gesundheitsminister eine schwere Entscheidung treffen: zwischen der Sperrung der Strände und der Not der unter extremer Hitze leidenden Menschen, die sich einfach nur im Meer abkühlen wollen. Der Corona-Lockdown lässt grüßen.

Aber selbst sogenannte Weiße Schwäne können bedrohlich wirken, unerwartete Ereignisse oder Erkenntnisse, die eigentlich positiv sind. Dass es im Deutschland vom Jahr 2049 eine (funktionierende!) elektronische Patientenakte geben wird, erscheint uns heute nach Jahrzehnten der Fehlschläge zwar nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Dass diese dann dazu führt, dass alle Bürger einen Gesundheits-Score bekommen, ist wiederum keine schöne Vorstellung.
Denn dieses Punktesystem ist die Basis einer harten Gesundheitsreform, die viele Menschen zu Verlierern machen würde: Wer seine Gesundheit aktiv fördert, regelmäßig zur Vorsorge geht oder seine Ernährung umstellt, erhöht sein Punktekonto. Wer sich aber gegen den ärztlichen Rat verhält, wird mit Minuspunkten bestraft und muss mit den Konsequenzen leben – oder sterben, etwa, weil eine OP nicht bewilligt wird. Damit wird in der Serie konsequent fortgeschrieben, was heute schon viele Krankenkassen mit "Bonusprogrammen" anstreben.

Es gibt also sicher viele Szenarien in der Serie, die Zuschauer durch zu große Nähe zur Realität vergraulen könnten. Leichter haben es da natürlich Science-Fiction-Serien, die räumlich und inhaltlich so absurd weit von der Realität entfernt sind, dass wir sie als "ungefährlich" wahrnehmen.
Gern erinnere ich mich an Raumschiff Enterprise, eine Lieblingsserie meiner Kindheit. Sie projizierte das beginnende Zeitalter der Raumfahrt nicht einfach in die Zukunft, sondern erfand Raumschiffe, die mit Warp-Geschwindigkeit durchs All schossen, Beamer, die die Besatzung überall hin verfrachteten und Tricorder, die alle Körperparameter in Sekunden erfassten. Vielleicht waren die Drehbuchautoren der Charité dagegen zu sehr auf Realitätsnähe fixiert. Und irritieren ihre Zuschauer so eher, statt sie zu faszinieren.
Charité: Die Serie kann viele Diskussionen anstoßen
Dennoch sind viele Erzählstränge der Serie interessant – weil sie das Potenzial haben, Diskussionen anzustoßen, wie die über eine dringend notwendige Reform der Krankenversicherung. Oder über ethischen Grenzen der Medizin und Technik. Etwa über die Gewissenskonflikte eines jungen Mannes, der sich durch "Human Enhancement" in einen übermenschlichen Kampfroboter verwandeln will, um die Ideale der Demokratie gegen bedrohliche Regime zu verteidigen. Allein dafür lohnt es sich, die Serie zu gucken.

Toll finde ich sie auch aus einem anderen Grund: Frauen spielen in der "Charité" der Zukunft viele tragende Rollen – und zwar nicht nur die der Guten, Liebenswerten, Besonnenen. Auch die knallharte Krankenhausmanagerin kommt vor oder die skrupellose Konzernchefin mit Allmachtsphantasien. Dass diese Rollen zum Teil etwas holzschnittartig angelegt sind – Schwamm drüber.
Auch die für eine Serie unvermeidliche Liebesgeschichte dreht sich um zwei miteinander lebende Frauen. Dass das zerstrittene Paar am Ende gemeinsam bei einer Notgeburt im Krankenhaus hilft und dadurch auch wieder zu sich selbst, ist natürlich kitschig, aber versöhnlich. Was man bei so viel geballter Zukunft gut gebrauchen kann.