Entspannung & Reise Auf die Spitze getrieben

Von Johannes Schweikle und Marek Vogel (Fotos)
Wer das Frühjahr auf den Gipfeln der Alpen erleben will, muss Tourenski mit Steigfellen anschnallen. Und auf sonnenverbrannten Hütten übernachten.

Die Königsetappe beginnt im Licht der Stirnlampe. Der Bergführer weckt uns um fünf Uhr. Da brennt in der Vernagthütte nur das Notlicht auf dem Flur. Vier morgenmuffelige Männer suchen im Schummerlicht ihre Kleider zusammen, die über Nacht zum Trocknen an die holzgetäfelten Wände und Stockbetten von Zimmer 27 verteilt waren. Uli wickelt gewissenhaft neues Tape um seine aufgescheuerten Fersen, dann zieht er vorsichtig die Wollsocken drüber. Nach vier Tagen auf Tour sind sie steif geschwitzt. Zähne putzen, eine Hand voll Wasser ins Gesicht, dann sitzen wir im halbdunklen Speisesaal und schmieren Marmeladenbrote.

Vor den Sprossenfenstern liegen die Berge noch im kalten Schatten der Nacht. Aber über der weiß verschneiten Kammlinie zeigt sich schon sanftes gelbes Licht. Der schmale Streifen kündet an, dass in zweieinhalb Stunden die Wintersonne strahlend am wolkenlosen Himmel scheinen wird. Und wir werden zur Wildspitze aufsteigen, zum zweithöchsten Berg Österreichs, 3774 Meter hoch.

Unberührte Hochgebirge jenseits der Pisten

Fünf Tage dauert unsere Skihochtour in den Ötztaler Alpen. Sie führt uns ins unberührte Hochgebirge jenseits der Lifte und Pisten. Jeden Tag steht ein Dreitausender auf dem Programm, jeder trägt sein Gepäck auf dem Rücken, und jeden Meter Aufstieg bewältigen wir aus eigener Kraft. Die "Ötztaler Rundtour" galt schon im frühen 20. Jahrhundert als Klassiker, weil sie zu den schönsten Gipfeln und gewaltigsten Gletschern der Ostalpen führt. Seit 1991 bietet sie einen zusätzlichen Superlativ: Hier wurde Ötzi gefunden.

Servive

Das Frühjahr ist die ideale Zeit für Skihoch-touren. Sie sollten nur in Begleitung eines erfahrenen Bergführers unternommen werden - im unberührten Gebirge lauern Lawinen und andere hochalpine Gefahren. Für Einsteiger empfehlen sich Tagestouren.

Ski, Bindung und Stiefel unterscheiden sich von der Ausrüstung für den Pistenskilauf. Die Stiefel müssen gut sitzen, sonst vergällen Blasen den Spaß. Die Tourenskiausrüstung kann in Bergsteigerbüros und Sportgeschäften geliehen werden.

Die Ötztaler Rundtour wird von Mitte März bis Ende April geführt. Sie dauert sieben Tage, stellt konditionell und skifahrerisch hohe Anforderungen. An ausgesetzten Gipfelgraten fordert sie Mut und Grundkenntnisse des Berggehens. Die schönsten Panoramen der Ostalpen und Hüttenromantik wie aus dem Bilderbuch belohnen den Tourengeher. Sieben Tage kosten mit Halbpension 635 Euro, die kleinere Venter Rundtour (5 Tage) kostet 445 Euro.

Informationen und Buchung:

Bergführerstelle Vent, Haus Hubertus, A-6458 Vent im Ötztal; Tel. 0043-52 54-81 06; Fax 301 21; www.vent.at

Am zweiten Tag sind wir an der steinernen Pyramide vorbeigekommen, die seine Fundstelle markiert. Jetzt liegt der Schnee hier vier Meter hoch. Alois Pirpamer, unser Bergführer, hat Ötzi seinerzeit mit seinem Eispickel ausgegraben. Pirpamer ist hager und zäh, 67 Jahre im Gebirge haben tiefe Falten in sein braunes Gesicht gegraben, sein Vollbart ist schlohweiß. Seine Blicke bleiben meist beobachtend in der Reserve.

Das Alter der Gletscherleiche habe er auf 200 Jahre geschätzt, erinnert sich Pirpamer. Am nächsten Tag, so erzählt er, kam zufällig Reinhold Messner vorbei. Der sagte etwas von 500 Jahren, und Pirpamer frotzelte: "Du wärst nicht Reinhold Messner, wenn du nicht aufschneiden würdest." Ein Hubschrauber brachte den Toten nach Innsbruck, in die Pathologie. Als die Mediziner verkündeten, die Feuchtmumie vom Similaun sei mindestens 4000 Jahre alt, sagte der Bergführer Pirpamer: "Das halt ich für ein bisserl übertrieben." Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass dieser Steinzeitmensch vor rund 5300 Jahren gestorben ist.

Im langamen, gleichmäßigen Tempo

Zum Aufstieg schnallen wir Felle unter unsere Tourenski. Die Plastikstiefel sind leichter und beweglicher als Skistiefel für die Piste. Heute haben wir tausend Höhenmeter zu bewältigen. Luis Pirpamer schlägt ein langsames, aber gleichmäßiges Tempo an. "Wenn du erst langsam tust, wenn die Kraft weg ist, nützt das nix mehr", sagt er aus jahrzehntelanger Erfahrung. "Und jede Stunde einen Schluck trinken, damit das Blut nicht dick wird."

Alle gehen hintereinander in einer Spur, wie Ameisen krabbeln wir den unendlich weiten, weißen Berg hinauf. Die gleichförmigen Bewegungen strahlen meditative Ruhe aus, und das ganze Leben wird wunderbar einfach: Es gibt keine Termine mehr, keine Rechnungen, keinen Stress. Der Kopf kommt zur Ruhe, die Schwierigkeiten des Lebens werden plötzlich ganz einfach: Du musst nur noch einen Fuß vor den anderen setzen. Ein einzelner Schmetterling gaukelt über das schier endlos leuchtende Schneefeld.

Als der Gletscher steiler wird, stecken wir Harscheisen auf die Ski. Jetzt graben sich bei jedem Schritt sechs Zacken in den harten Schnee. Im Zickzack geht's bergauf, die Spitzkehren erfordern Mut, weil der Ski in der Luft über dem Abgrund hängt. Luis zeigt mit dem Skistock auf eine zugewehte Gletscherspalte: "Hier hab ich schon mal einen herausgeholt."

Gegen zehn Uhr machen wir Rast. Viele Tische, an denen wir schon saßen, waren nicht halb so gemütlich wie dieser verschneite Steilhang in 3400 Meter Höhe. Jeder sitzt auf seinem Rucksack, trinkt schluckweise Tee aus der Thermoskanne und isst Wurstbrot oder Müsliriegel. Nach der selbst auferlegten Entbehrung des Anstiegs wird ein ganz gewöhnliches Stück Schokolade plötzlich zum Hochgenuss. Das Gehen im Gebirge schärft die Sinne, in dieser reduzierten Welt entdecken wir wieder die Grunderfahrungen, die drunten in der Zivilisation oft verschüttet liegen. Vor allem am Abend in der Hütte erleben wir intensiv, worauf es ankommt: Essen und Trinken, Licht und Wärme und keine Blasen an den Füßen.

Im Gesicht glüht die Sonne nach

Es tut so wohl, wenn die heiße Dusche den Schweiß von der Haut spült (besonders wenn in der Hütte am Vortag nur kaltes Wasser im Waschbecken zu haben war). Danach ein Weißbier, Semmelknödel mit frischem Blaukraut und Lammragout, zum Nachtisch einen frisch gebackenen Apfelstrudel. Im Gesicht glüht die Sonne nach, die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt, und um den großen Tisch sitzen Kerle (und auch ein paar Mädels), die sich mit den Erlebnissen vom Tage aufziehen ("Der Marek schleppt die halbe Heimat in seinem Rucksack mit").

Unterhalb des Gipfels schnallen wir die Ski ab und Steigeisen unter die Stiefel. Luis seilt uns an. Das Gletschereis glänzt glatt und blau wie ein Swimmingpool. Am äußersten Rand dieser Flanke zieht sich ein Schneeband hinauf, das müssen wir nehmen. Rechts fällt die Wand zwar fast senkrecht in die Tiefe, aber der Grat ist viel breiter als vorgestern, da war er nur so schmal wie eine Bierzeltbank. Jetzt geht es in den Fels, jeder Schritt muss richtig gesetzt werden, und man muss den Kopf überlisten: Stell dir vor, das wär ein Gehweg - da gehst du ja auch geradeaus und brauchst nicht mehr als 20 Zentimeter Breite. Und nicht in die Tiefe schauen, dort lauert die Panik. Zum Glück ist das Gipfelkreuz mit vier Stahlseilen im Berg verankert. An denen kann man sich festhalten.

Und das Panorama genießen: Ringsum liegen unberührte Gletscher, und dahinter staffeln sich die Berge, lauter weiße Zacken, Gipfel an Gipfel. Am Horizont ragen die Dolomiten, Langkofel und Rosengarten, weiter rechts der Piz Bernina im Engadin, und auf der anderen Seite kerbt sich tief das Pitztal ein. Wir stehen auf dem Alpenhauptkamm, ganz oben, wie auf einer Dachterrasse, und sind umgeben von der ganzen Pracht der Berge. Fotos werden gemacht, neben dem Gipfelkreuz liegt eine Bananenschale.

Durch den schweren Sulz

Jetzt erwartet uns eine Abfahrt über 1870 Höhenmeter. Wir schnallen die Steigfelle ab, verriegeln die Bindung und stellen die Schäfte der Skistiefel steif. Die Rinne gleich am Anfang ist so steil, dass wir uns am Seil hinunterhangeln. Danach wechselt der Schnee alle hundert Meter seinen Charakter: Mal gibt er sich freundlich als Firn, auf dem man locker wie auf der Piste schwingen kann. Ohne Vorwarnung geht er in Bruchharsch über, in dem die Kurven anfängerhaft ungelenk werden und selbst die Bergführer mit dem Gleichgewicht zu kämpfen haben. Und weiter unten mühen wir uns durch den schweren Sulz. Oben am Grat stehen fünf Gämsen und schauen auf uns herab. Können Tiere grinsen?

Es ist windstill und so warm, dass wir die Ärmel hochkrempeln. In den Firnpassagen wird die Abfahrt zum weißen Rausch: Wir haben's gepackt. Kein Aufstieg ist mehr zu bewältigen, nur noch gleiten, gleiten, gleiten. "Deshalb ist eine Hochtour im Winter schöner als eine Wanderung", sagt Luis Pirpamer, "weil du im Sommer diesen endlos langen Abstieg zu Fuß gehen musst."

Gegen 15 Uhr, nach gut sieben Stunden Geh- und Gleitzeit, taucht unter uns der rote Zwiebelturm des Kirchleins von Vent auf. Hier sind wir am Sonntag aufgebrochen. Fünf Tage waren wir in einer Welt aus Schnee und Himmel. Uli zeigt auf den Hang schräg unten. "Wisst ihr noch, was das spitze Grüne ist? Das sind Bäume."

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