Herr Reis, in seinem neuen Buch behauptet Thilo Sarrazin, dass Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent erblich" ist. Liegt Intelligenz in den Genen?
Zu einem gewissen Anteil wird Intelligenz vererbt. Je nach genetischer Studie liegt dieser zwischen 50 bis 80 Prozent. Allerdings gibt es kein einzelnes Intelligenz-Gen, sondern eine Vielzahl von genetischen Faktoren ist daran beteiligt. Da diese bei den Nachkommen immer wieder neu kombiniert werden, können weniger begabte Eltern auch begabte Kinder haben und umgekehrt. Man darf es sich also nicht so einfach machen.
Herr Sarrazin geht auch davon aus, dass ganze Volksgruppen aufgrund ihrer Gene weniger intelligent sind. Gibt es einen deutschen oder türkischen Volks-IQ?
Das ist ein ausgemachter Unsinn. Man kann nicht behaupten, dass türkischstämmige Menschen generell dümmer sind. In allen Bevölkerungen findet sich eine Streuung - es gibt kluge Menschen und weniger intelligente. Das ist bei Deutschen nicht anders als bei Türken, Italienern oder Griechen. Allerdings spielen die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen durchaus eine Rolle. Wenn Migranten zu uns kommen, die weniger gute Voraussetzungen hatten, dann ist deren Bildung wahrscheinlich eher gering, wobei Bildung und Intelligenz zusammenhängen.
Inwiefern?
Fest steht, dass die Umwelt einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob ein Kind seine Fähigkeiten entwickeln kann oder nicht, ob bestimmte Gene aktiviert werden und wie sie zusammen wirken. Wenn wir keine Förderung haben, keine günstigen Rahmenbedingungen, die die Entwicklung von Intelligenz ermöglichen, dann ist das Potenzial auch nicht abrufbar. Wir dürfen die Gene im Grund nur als eine Option sehen. Ein bestimmtes Potenzial ist ererbt, dieses muss aber auch aktiviert werden. Dafür sind Umweltbedingungen wie die wirtschaftliche Situation der Eltern und ihr Bildungsstandard entscheidend.
Könnte ein Experte - nur mit Blick aufs Erbgut eines Menschen - überhaupt erkennen, ob es sich um einen Deutschen oder einen Türken handelt?
Volksgruppen unterscheiden sich zwar genetisch voneinander. Aus dem Erbgut ist zum Beispiel ablesbar, ob es sich um einen Menschen afrikanischer, asiatischer oder europäischer Abstammung handelt. Wir können es allerdings nicht mehr sauber trennen, ob jemand aus der Türkei oder aus Deutschland kommt. Zudem können die genetischen Unterschiede zwischen zwei Menschen in einer Bevölkerungsgruppe größer sein als zwischen zwei Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Es gibt also mitnichten ein Türken- oder ein Juden-Gen.
Genau das behauptet Herr Sarrazin aber. In einem Interview geht er davon aus, dass alle Juden ein bestimmtes Gen haben. Oder alle Basken.
Mit dieser Aussage hat sich Herr Sarrazin meiner Meinung nach disqualifiziert. Da ist er völlig auf dem Holzweg. Es gibt keine genetischen Merkmale, die eine einzelne Bevölkerungs- oder Religionsgruppe charakterisieren. Jeder Mensch hat ungefähr 25.000 Gene und jeder hat wirklich alle. Allerdings gibt es bei jedem Individuum unterschiedliche Varianten dieser Gene, die durch Mutation entstanden sind. Wobei, wie gesagt, ein Deutscher und ein Türke sich diesbezüglich mehr gleichen können als zwei Deutsche. Es gibt also so wenig ein Türken- oder Juden-Gen wie es ein Franken- oder Bayern-Gen gibt. Zwar können einzelne Merkmale wie blaue Augen oder rote Haare auf Varianten dieser Gene zurückgeführt werden, allerdings reicht das nicht aus, um zum Beispiel zu sagen, jemand der rothaarig ist, ist ein Ire. Hier sind die Menschen genauso wenig auf Gene reduzierbar wie bei der Intelligenz.
Warum halten sich so absurde, wissenschaftlich längst überholte Thesen wie die, dass bestimmte ethnische Gruppen angeblich weniger intelligent sind als andere?
Der Versuch, immer wieder wertende Eigenschaften im Vergleich zwischen Bevölkerungsgruppen in die Diskussion einzubringen, ist ein andauerndes Problem. Vielleicht verleitet die Tatsache, dass es äußerliche Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen wie Haut- oder Haarfarbe gibt, zu dem Kurzschluss, dass dann auch die Intelligenz unterschiedlich sein müsste. Allerdings sind das reine Vorurteile. Die sinnvolle Konsequenz aus der durch das Sarrazin-Buch erneut angestoßenen Integrationsdebatte müsste eigentlich sein, dass wir zugewanderte Menschen stärker fördern müssen, wenn dies nötig ist. Und nicht diskriminieren.