Paul hat es seiner Ehefrau noch nicht gesagt. "Ich weiß wirklich nicht, wie ich ihr das schonend beibringen kann", sagt der 48-Jährige. Seit 24 Jahren sind sie verheiratet. Geheimnisse gibt es sonst keine. Nur dieses eine: Paul möchte sich sein linkes Bein amputieren lassen.
Ja, er wisse, das sei absurd. Er wisse, dass andere ihn für verrückt erklären könnten. Wie kann er also erwarten, dass sie das versteht? "Ich verstehe es ja selbst nicht", sagt Paul. "Doch ich habe diesen Wunsch schon seit meiner Kindheit. Er verschwindet einfach nicht." Da helfe auch kein Verdrängen. "Kein Tag vergeht ohne die quälenden Gedanken an diesen Amputationswunsch." Es gäbe, so sagt er, nur eine einzige Lösung: eine Operation. Das ist hierzulande allerdings verboten. Vielleicht werde er deshalb ins ferne Ausland fahren - und als Einbeiniger zurückkehren. Auch Jakob aus der Schweiz will nicht mehr warten. "Eines ist sicher, mein linkes Bein muss noch in diesem Jahr weg", sagt er. "Ich halte es nicht mehr aus mit diesem Bein. Ich 'bastle' bereits an einem Unfall." Und danach? "Dann kann ich endlich so leben, wie ich es mir schon immer gewünscht habe."
Was ist mit Paul los? Und mit Jakob? Da sind Menschen körperlich gesund, wünschen sich aber, schwer behindert zu sein. Die Wissenschaft hat dafür einen Namen: "Body Integrity Identity Disorder" (BIID) - "Körper-Integritäts-Identitäts-Störung". Dahinter steckt das Gefühl, dass der eigene Körper erst durch eine Amputation so wäre, wie er sein sollte. Wo andere sich gehandicapt fühlen würden, fühlen sich Betroffene endlich "richtig".
Eine jahrelang andauernde Qual
BIID kann bis heute nicht erklärt werden. Beschrieben wird das Phänomen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In einer medizinhistorischen Anekdotensammlung schildert ein französischer Chirurg wie er von einem Mann unter vorgehaltener Pistole gezwungen wurde, dessen gesundes Bein zu amputieren. Experten gehen davon aus, dass es inzwischen mehrere Tausend Betroffene weltweit gibt, vor allem Männer. Die Dunkelziffer ist allerdings hoch.
Peter Brugger von der Züricher Klinik für Neurologie forscht zu BIID. Einer seiner Artikel trägt den Titel: "Bizarre Macke oder neurologische Störung?" Der Experte gesteht, dass er sich anfangs schwer tat, dieses Krankheitsbild einzuordnen. "Während mehrerer Jahre bin ich dem Phänomen kopfschüttelnd begegnet, bis persönliche Kontakte mit Betroffenen mich davon überzeugten, dass ein ernst zu nehmender Leidensdruck dahinter steht", sagt der Neuropsychologe.
Eine Qual, die meistens über viele Jahrzehnte andauert. "Ein großer Druck lastet auf mir", sagt Paul. "Wie kann ich anderen meinen Wunsch begreifbar machen? Ich schäme mich dafür." Mehrere Jahre lang habe er versucht, sein linkes Bein in sein Leben einzubeziehen. Dann die Erkenntnis: "Man kann nichts einbeziehen, was nicht dazugehört." Und Jakob erzählt: "Ich fühle mich wie ein geprügelter Hund. Den Wunsch nach einer Amputation finde ich selbst abartig." Lange habe er gedacht, er sei "irgendwie krank im Kopf". Erst über das Internet fand er heraus, dass er nicht alleine war: "Da kam eine gewisse Erleichterung auf." Trotzdem, ein Doppelleben führen zu müssen, das nage sehr an ihm. So sehr, dass vor fünf Jahren der erste Burn-out folgte. Der nächste kündigt sich bereits an.
Die Rolle des Einbeinigen gefällt ihm
Die Sehnsucht ist einfach nicht tot zu kriegen. Wann immer es geht, am liebsten täglich, schlüpft Jakob in die Rolle des Einbeinigen. Dazu klappt er das Bein hoch, schnürt über den Oberschenkel eine Binde und zieht sich einen Silikonliner drüber, eine Art Strumpf, der über den "Beinstupf" gestülpt wird. "Schon das Aufrollen des Liners erzeugt ein riesiges Glücksgefühl in mir", berichtet er. Mit Krücken oder im Rollstuhl erledigt Jakob dann alles, was im Haushalt so anfällt: Kochen, Bügeln, Putzen. "Wenn ich mein linkes Bein nicht gebrauchen kann, geht es mir richtig gut", sagt er. So auch nach draußen zu gehen, dafür fehle ihm allerdings der Mut. "Die Angst, dass ich auffliegen könnte, ist zu groß."
Was Jakob macht, ist quasi auch ein Test. Von "Pretending" sprechen die Fachleute. "Die Betroffenen wollen herausfinden, inwiefern sie mit der Behinderung zurechtkommen", erklärt Erich Kasten, Psychologe an der Universität Lübeck. Zusammen mit Brugger und anderen Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bildet er seit Herbst 2008 eine überregionale BIID-Kommision, die damit befasst ist, wie Betroffenen am besten geholfen werden kann.
Ursachen sind umstritten
Noch sind keine verlässlichen therapeutischen Ansätze bekannt. Über Ursachen wird gestritten. "Wir haben jüngst vorgeschlagen, BIID als frühe Entwicklungsstörung aufzufassen", so Peter Brugger. "Ungewollte Gliedmaße wurden zwar organisch voll ausgebildet, blieben aber aus bisher unbekannten Gründen 'unbeseelt'." Heißt: Das Gehirn hat sie nicht ins Körperbild integriert. Ursache könnte eine frühkindliche Läsion sein, also eine Schädigung in einem Bereich der Großhirnrinde. Das Problem: Läge eine solche Läsion vor, müssten die Betroffenen auch sonst Bewegungsschwierigkeiten haben. Das aber sei nicht der Fall. Viele würden regelmäßig Sport treiben, sagt der Zürcher Experte. Auffällig ist: Oft richtet sich der Amputationswunsch auf das linke Bein und ist auf keinen Fall beliebig. "Betroffene können auf den Zentimeter genau sagen, an welcher Stelle amputiert werden soll", so Brugger. Diese Präzision wiederum spräche für eine neurologische Störung.
Trotzdem: Ein rein neurologisches Modell erklärt BIID nicht umfassend. "Es kann beispielsweise nicht begründen, warum sich, und das ist häufig der Fall, der Amputationswunsch im Laufe der Jahre verlagert, etwa auf das rechte Bein, und manchmal wieder umspringt", sagt Psychologe Kasten. In psychologischen Studien werde oft ein frühes Schlüsselerlebnis genannt. "Anders als andere Kinder waren die Betroffenen vom Anblick eines Behinderten völlig fasziniert", so der Experte. Manche würden Amputierte als Helden sehen, die trotz Behinderung ihr Leben meistern. Das führe zu der Frage, ob manche BIID-Patienten unter Minderwertigkeitskomplexen leiden könnten. "Das ist eher eine Vermutung", sagt Kasten. "Möglich wäre aber, dass sie durch die Bewältigung einer Behinderung der Umwelt zeigen wollen, was in ihnen steckt." Auch wenn die Betroffenen - so wie Jakob - manchmal selbst denken, sie hätten "einen an der Waffel" - Psychosen und andere psychische Auffälligkeiten konnte man in Studien nicht feststellen.
Recht auf Amputation?
Noch scheint eine Operation die einzige Lösung. Befürworter argumentieren mit Selbstbestimmung und fordern das "Recht auf Amputation". Doch Gesetze und Mediziner stemmen sich aus ethischen Gründen gegen die Amputation eines gesunden Körperteils. Solchen, die es doch tun, drohen Konsequenzen. Im Jahr 2000 beispielsweise führte der schottische Arzt Robert Smith zwei Beinamputationen durch - auf Wunsch von zwei BIID-Patienten. Nach einem BBC-Report schritt die Ärztekammer ein und verbot weitere Amputationen. Momentan scheint es weltweit nur ein einziges Ärzteteam zu geben, das mal in Asien, mal in Afrika entsprechende Operationen durchführt. Eine teure Angelegenheit, vielen fehlen die finanziellen Mittel. Manche sind so verzweifelt, dass sie selbst Hand anlegen. Ein Patient beispielsweise schoss sich ins Knie, um die Ärzte zu einer Amputation zu zwingen, andere bauen Mini-Guillotinen oder setzen elektrische Sägen an.
Bein weg, alles gut? "Ich mache mir Sorgen um meine Frau. Sie muss irgendwann mit einem Mann leben, der in ihren Augen schwerstbehindert ist", sagt Paul. In seinem Job - er ist Chef eines Unternehmens - hingegen würde alles weiterlaufen wie bisher. Sein fehlendes Bein störe da nicht. Gesundheitliche Risiken? "Phantomschmerzen wären möglich, aber auch das schreckt mich nicht." Hoffnung würden ihm Betroffene geben, die bereits eine Amputation hinter sich haben: "Die haben einfach mehr Lebensenergie, weil sie sich nicht weiter mit diesem Problem beschäftigen müssen." Jakob formuliert es so: "Ein besseres Leben als mit meinem linken Bein wird es werden."