Herr Professor Klotter, Ihr neues Buch sollte ursprünglich heißen: "So funktioniert Gesundheitsförderung". "Warum wir es schaffen, nicht gesund zu bleiben" klingt wie das genaue Gegenteil. Was ist da geschehen?
Während ich recherchierte, stellte ich fest: Ich kann nicht erklären, wie Gesundheitsförderung funktioniert, also Maßnahmen, bei denen Experten Patienten beibringen möchten, einen gesünderen Lebensstil anzunehmen. Denn meine Erkenntnis war, dass das nicht funktioniert. Und da, wo in wissenschaftlichen Arbeiten über erfolgreiche Gesundheitsförderung berichtet wird, entdeckte ich einen auffälligen Mangel an Beweisen: wolkige Formulierungen, allgemeine Betrachtungen, aber sehr wenig konkrete Belege. Für mich war das ein regelrecht schmerzlicher Prozess, eine große Ernüchterung. Denn ich habe jahrelang selbst an solchen Projekten mitgewirkt, besonders auf dem Feld der Ernährung. Ich war selbst ein überzeugter Gesundheitsförderer.
Was läuft schief?
Ich war unter anderem an einem langfristigen, öffentlich finanzierten Projekt in Berlin beteiligt, in dem wir mit großem Aufwand versuchten, Übergewichtigen aus benachteiligten Schichten zum Abnehmen zu verhelfen. Während der Startphase schien das auch zu funktionieren. Sie wurden leichter. Aber nach sechs Jahren brachte unsere Gruppe wieder genau ihr Ausgangsgewicht auf die Waage.
Wieso konnten die neuen Gewohnheiten nicht Fuß fassen?
Wenn der Kuchen verboten war, während man das Programm durchlaufen hat, wird der Kuchen hinterher viel besser schmecken - das ist schlichtweg so. Wir mussten einsehen, dass wir nur durch dauerhaftes Betreuen das Verhalten hätten ändern können. Das öffentliche Gesundheitswesen kann Ihnen aber nicht lebenslang einen persönlichen Coach zur Seite stellen.
Waren alle Teilnehmer Ihrer Gruppe nach sechs Jahren wieder so schwer wie zuvor - ausnahmslos?
Zwei Ausnahmen gab es. Als diese Teilnehmer in eine Krise gerieten, sind sie aus eigenem Antrieb zu mir gekommen, und wir haben ein paar Stunden Psychotherapie gemacht. Das hat geholfen. Der entscheidende Punkt ist: Diese Klienten haben wir nicht bekehrt, sondern sie sind von sich aus aktiv geworden, sie haben sich Hilfe geholt, statt sie geliefert zu bekommen, und das war erfolgreich. Ich musste erkennen, dass die Gesundheitsförderung ansonsten aber dazu neigt, als eine Art Gesundheitspolizei aufzutreten. Oder zumindest wird sie so wahrgenommen.
Christoph Klotter
Christoph Klotter lehrt Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda. Im Rheinhardt-Verlag ist jetzt sein Buch "Warum wir es schaffen, nicht gesund zu bleiben: Eine Streitschrift zur Gesundheitsförderung" erschienen.
Und das macht widerspenstig?
In der Praxis zeigte sich das genau so. Wer nicht aus sich selbst heraus einen Antrieb schöpfen darf, Gesundheit für einen hohes Ziel anzusehen, für das man womöglich andere Ziele wie Genuss, Müßiggang oder Spaß am Risiko zurückstellen muss, den erreichen wir nicht. Ich vergleiche das damit, dass die Polizistin, wenn sie mir einen Strafzettel geben will, mir noch einmal die ganze Straßenverkehrsordnung vorliest. Das ist wenig aussichtsreich.
"Vorbeugen ist besser als heilen" klingt aber plausibel. Was ist daran falsch?
Es ist durchaus so. Nur muss man sich den Unterschied zwischen Prävention und Gesundheitsförderung klarmachen. Die Prävention, ganz allgemeine Vorbeugung also, die gibt es überall. Menschliche Gemeinschaften lernen Hygiene, sie wissen, wie sauberes Wasser beschafft werden muss, wie ein sauberes, gesundes Haus aussehen sollte. Gesundheitsförderung ist ein ganz anderes Konzept, das von Eliten in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), von Krankenkassen und politischen Institutionen geschätzt wird.
Warum?
Hier suggeriert sich eine Avantgarde, sie könne durch Predigt und Erziehung die Masse zu gesundheitlichem Wohlverhalten bewegen. Sie scheut es auffällig, das konkret nachzuweisen: "Reality bites", wie man auf Englisch sagt, denn die Wirklichkeit sieht nicht angenehm aus.
Gesundheitsförderung scheint ein autoritäres Konzept zu sein.
Es ist ein Menschenverbesserungsvorgang. Man stellt sich vor, passive Subjekte in aktive zu verwandeln, möchte ihnen eine "Kompetenz" vermitteln und ist dabei sicher, man wüsste besser, was die Klienten wollen sollen als die Klienten selbst. Das Paradoxe ist, dass diese Idee aus einem linken, geradezu sozialrevolutionären Programm hervorgegangen ist.
Die WHO erscheint Ihnen dabei als typisch?
Die Chartas der WHO, angefangen in den 1980er Jahren, versprechen immer weitergehende Rechte und Ansprüche der Einzelnen auf immer mehr Gesundheit. Dies fällt zusammen mit einer breiten Sozialdemokratisierung der Gesundheitssysteme, die immer mehr anbieten.
Klingt durchaus positiv.
Wenn die Menschen aber immer noch krank werden, gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Erstens eine bösartige Industrie, die von Krankheit lebt, und ein minderwertiger Staat, der Ungleichheit zulässt, verhindern die Gesundheit. Zweitens: Die Klienten haben ein falsches Bewusstsein, sie erkennen nicht, was gut für sie ist. Dann können sie, einer linken Tradition entsprechend, fremdbeglückt werden, durch eine Gesundheitsförderungsmaßnahme auf Rechnung der Gemeinschaft.
Das zugrunde liegende Menschenbild erscheint wenig positiv.
Leider zeigt sich das oft sehr offen, im Sinne von "jetzt beschimpfe ich die blöde Masse". Wenn ich diese ganzen Ernährungsberichte lese: Die Deutschen ernähren sich schlecht, trinken zu viel, essen zu viel, alles unverständige Leute. Das kann sein. Aber die Lebenserwartung steigt dennoch. Warum? Statt grundlegende Rätsel der Ernährungsmedizin zu lösen, versickern Millionen in Programmen, die ihr erklärtes Ziel nicht erreichen.
Öffentliche Gesundheitsförderung als Überbleibsel einer vergangenen Epoche?
Aus Sicht einer breiten Mehrheit sind die großen Utopien mit dem Ende des Ostblocks real untergegangen - die Idee der klassenlosen Gesellschaft ist passé. Daher haben Avantgarden, die nach unten hin das Heil versprechen, keine Glaubwürdigkeit: Wir sind ihrer müde. Wenn nun der Gesundheitsförderer auftritt und seine missionarische Vorstellung weiter propagiert, funktioniert es wie einst in der Kirche: Das ständige Betonen der Sünde erzeugt neue Sünde. Gesundheit erscheint dann als Norm und Pflicht statt einer Freude. Gesundheit als Norm produziert ihr Gegenteil.
Und der Gesundheitsförderer selbst ist am Ende frustriert?
Oder aggressiv, weil die Menschen einfach nicht vernünftig gemacht werden wollen. Auf Kongressen gehört Volksbeschimpfung fast zum Ritual.
Die Deutschen werden tatsächlich immer schwerer, soll man das einfach laufen lassen?
Wenn ich ein solches Problem identifiziere, sollte ich es zunächst vorbehaltlos studieren: Es gibt kranke Dicke, es gibt aber auch viele aktive Dicke, die vollkommen gesund bleiben. Das war bis in die jüngsten Jahre ein Tabu. Erst jetzt wird auf den Kongressen offen darüber gesprochen. Zum zweiten: Es gibt tatsächlich viele gesundheitliche Probleme aller Art, die gelöst werden müssen, bis hin zu krasser Unterversorgung. Umso weniger logisch erscheint es, die begrenzten Mittel für Maßnahmen auszugeben, die keine Lösungen bringen.
Was tun?
Der Präventionsgedanke selbst ist vollkommen vernünftig, nur muss man schonungslos fragen: Mit welchen Anreizen erreichen wir wirklich etwas? Niemand will beispielsweise ernsthaft noch die Gurtpflicht im Auto abschaffen. Höhere Preise schrecken vom Rauchen ab. Und das Rauchverbot in Gaststätten zeigt bereits jetzt messbare gesundheitliche Effekte. Das sind legitimierte Maßnahmen, und ihre Wirkung lässt sich nachprüfen. Bei den Programmen zur Verbesserung des Menschen an sich sind meine Zweifel heute sehr groß.