Wir hatten nur noch einen Gedanken in letzter Zeit: Wir wollen zurück zu unseren Familien nach Deutschland", sagt Nelly. "Weihnachten wieder zu Hause in Lemgo zu sein war unser größter Wunsch - und endlich Ruhe zu haben, kein Krankenhaus, keine fremden Menschen mehr."
Als dann das Okay
von Neurochirurg Benjamin Carson kam, früher als erwartet, war Peter fassungslos, reagierte erst gar nicht auf die heiß ersehnte Nachricht, die ihnen Übersetzerin Alexa überbrachte. "Hey, du musst dich freuen", stupste Nelly ihren Mann. "Ich kann es nicht glauben", sagte der.
"Die Rückkehr ist der nächste Schritt in ein normales Leben", sagt Nelly. Es waren nur kleine Schritte, die die Familie in den vergangenen Wochen machen konnte. Und viele wird sie noch machen müssen. Denn Lea hat sich noch längst nicht erholt von den Strapazen der Trennungsoperation.
Bisher sind es seltene Augenblicke des Glücks. Manchmal, wenn Lea für Sekunden lacht. Wenn Nelly "Die Maus hat rosa Socken an" singt und mit Leas Füßchen turnt. Wenn Peter ihr beim Kuscheln liebevoll über die Wange streichelt. Dann sehen die Eltern den weißen Kopfverband nicht mehr, der aussieht wie eine Pudelmütze aus Mull, nehmen auch die Magensonde im rechten Nasenloch der Einjährigen nicht wahr. Dann ist da für einen kurzen Moment wieder das fröhliche, hübsche Mädchen, das Lea vor der Operation und der Trennung von ihrer Zwillingsschwester Tabea gewesen ist. Dann scheint plötzlich ein Alltag mit Krabbelgruppe und Kinderspielplatz mehr zu sein als nur ein Traum. Möglich in nicht allzu ferner Zukunft.
Natürlich weint Lea oft. Der Stress, die Schmerzen der vergangenen Wochen stehen ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Dünnhäutig ist sie geworden. Sie gerät oft schon bei kleinen Berührungen in Panik. "Dann hat sie Angst vor allem, was wir machen, ob wir Windeln wechseln oder nur ihre Ärmchen anfassen", sagt Nelly. "Wir versuchen deshalb, ganz ruhig, ohne schnelle Bewegungen, mit ihr umzugehen. Sie versteht noch nicht, dass wir ihr nichts antun wollen." Tief eingegraben ins Unterbewusstsein haben sich Operation und wochenlanger Krankenhausaufenthalt bei dem Mädchen. "Wir müssen ihr einfach Zeit geben", sagt Nelly. "Es ist ja erst knapp drei Wochen her, dass sie aus der Klinik entlassen wurde."
Seither wohnt Lea
mit ihren Eltern und Nellys Schwester Irene in einem 20-Quadratmeter-Zimmer im Children's House, einer Art Wohnheim für Familien, nur etwa 200 Meter entfernt vom Johns Hopkins Hospital. "Es ist eng hier", sagt Nelly, "aber hundertmal besser als in der Klinik, wo es hektisch und laut war."
Acht Wochen lag Lea in dem großen Krankenhaus in Baltimore an der amerikanischen Ostküste. "Du musst in nächster Zeit viel kämpfen", hatte Nelly ihrer Tochter bei ihrem ersten Besuch auf der Intensivstation nach der Trennungsoperation Mitte September gesagt. Inzwischen benötigt das Mädchen keine Überwachungsmonitore mehr, die Schläuche und Kabel sind bis auf drei verschwunden. Geblieben sind ihr nur der zentrale Venenkatheter, für Notfälle wie einen schweren Krampfanfall, zudem genutzt für die Blutabnahme. Und die Magensonde, denn bisher trinkt Lea nicht genug, isst auch zu wenig von Nellys selbst geköchelten Suppen aus Kartoffeln, Fleisch und Möhren. Damit sie auf die 1000 Kalorien kommt, die sie täglich zu sich nehmen soll, gibt man ihr zusätzlich eine Sondennahrung. Sie enthält Kohlehydrate, Fette, Eiweiß, Vitamine und Mineralsalze.
Während der Katheter und die Magensonde spätestens kurz vor der Heimreise nach Deutschland gezogen werden, bleibt ein anderer Plastikschlauch, dick wie ein Strohhalm, in Leas Körper: der "lumboperitoneale Shunt". In Höhe der Lendenwirbelsäule wird über ihn das Hirnwasser, von dem Lea zu viel produziert, unter der Haut in den Bauchraum abgeleitet. So wollen die Ärzte auch weiterhin einen "Wasserkopf" verhindern.
Die Eltern haben die Arbeit des Pflegepersonals übernommen. Zweimal täglich wechseln sie Leas Kopfverband. Meist ist es Peter, der dann mit sterilen, lilafarbenen Gummihandschuhen die Wundauflagen austauscht. Die nächsten Jahre wird Lea keine Mützen und Sonnenhütchen tragen, sondern einen Kopfschutz wie ein Rugby-Spieler. Leas Gehirn wurde zwar in einer Nachoperation in eine künstliche Hirnhaut gepackt und mit dem vorhandenen Rest eigener Hirnhaut vernäht, anschließend mit Kopfhaut überzogen. An der Stelle, an der die Zwillinge zusammengewachsen waren, fehlt aber eine stabile Abdeckung durch die knöcherne Schädeldecke. Mit deren Rekonstruktion soll in frühestens einem Jahr begonnen werden.
Lea bekam über Wochen Morphium,
inzwischen benötigt sie keine Schmerzmittel mehr. Ein Medikament gegen epileptische Anfälle, wie sie häufig nach schweren Hirnoperationen auftreten, wird sie aber vorläufig weiternehmen müssen. Am 20. Oktober erlitt sie den ersten für die Eltern sichtbaren Anfall. Ein Schock. "Das war schrecklich. Lea lag plötzlich völlig reglos da. Sie war überhaupt nicht mehr ansprechbar", erzählt Nelly. "Es gibt Anfälle, die zeigen sich vor allem in einer Bewusstseinspause. Das ist wie ein Kurzschluss", sagt der deutsche Kinderarzt der Familie, Martin Bruns. "Da dringt keinerlei Information mehr von außen nach innen."
Weil die Zahl der Anfälle täglich stieg, entschieden die Ärzte des Johns Hopkins Hospitals, das vorsorglich seit der Operation verabreichte Antiepileptikum gegen ein anderes zu tauschen. Seither geht es Lea besser.
Sorgen bereitet den Eltern derzeit, dass ihre Tochter nicht richtig sieht, im Moment wohl nur hell und dunkel unterscheiden kann. Ob das Mädchen je wie-der richtig sehen kann, ist ungewiss. Und noch ein Problem gibt es: Während Lea die rechte Hand und das rechte Bein wieder fast normal bewegt, geht die Lähmung auf der linken Seite nur langsam zurück. Ein bisschen bewegt sie inzwischen die linke Hand, den linken Arm und das linke Bein. Aber eben nur sehr behutsam. Nach ihrem roten Spielzeughandy, dem Schnuller, der Mohrrübe greift sie stets mit rechts. "Ob etwas von der halbseitigen Lähmung zurückbleibt, wird man in einem halben bis einem Jahr sehen können", sagt Martin Bruns.
"Wir beten, dass wir annehmen können, was wir bekommen", sagt Nelly. Kraft gibt den Eltern ihr fester Glaube - wie schon bei der Entscheidung, ihre siamesischen Zwillinge auf die Welt zu bringen. Bruns macht Peter und Nelly immer wieder Mut, weist sie auf kleine Fortschritte hin. "Positiv ist zum Beispiel, dass Lea zu dem Kinderspiel "Fähnchen im Wind" winkt, das spricht für die kognitiven Funktionen", sagt er.
Fast täglich schauen
sich Nelly und Peter Bilder von Tabea an. "Wir denken oft an sie, und wir reden viel über sie", sagt Nelly. "Aber es ist schwierig, Zeit der Trauer zu finden in unserer Situation. Seit wir von Tabeas Beerdigung in Deutschland wieder zurück in Baltimore sind, kümmern wir uns rund um die Uhr um Lea. Ich glaube, es wird noch sehr, sehr hart für uns, wenn wir wieder zu Hause sind und mehr Ruhe haben. Dann wird uns alles, was passiert ist, einholen."
Vor allem die Nacht vom 16. auf den 17. September. Die Nacht, in der sie plötzlich einen Schmerz aushalten mussten, von dem sie so sehr gehofft hatten, er möge ihnen erspart bleiben. In der sie plötzlich nur noch ein Kind hatten.