Querschnittslähmung Antikörper überbrücken Lücke im Rückenmark

Nervenzellen im Rückenmark, einmal durchtrennt, wachsen nie wieder zusammen. Forscher vermuten, dass Stopp-Proteine dafür verantwortlich sind. Könnte eine Antikörpertherapie Querschnittsgelähmten helfen?

Eigentlich unterscheiden sich die Nervenzellen im Rückenmark gar nicht so sehr von denen in Fingern oder Zehen. Allerdings gibt es eine entscheidende Ausnahme: Wer sich in den Finger schneidet, braucht nicht zu befürchten, ihn anschließend nicht mehr bewegen zu können. Die Nervenfasern wachsen wieder zusammen und sind dann voll funktionsfähig.

Bei den Nerven im Rückenmark funktioniert dieser automatische Reparaturmechanismus hingegen nicht: Werden sie durchtrennt, machen die Zellen keinerlei Versuche, die Lücke zu überbrücken - der Betroffene bleibt querschnittsgelähmt. Seit Jahren versuchen Wissenschaftler, dem Grund für diese fehlende Wachstumsbereitschaft auf die Spur zu kommen und damit auch eine Möglichkeit zu finden, Querschnittsgelähmten zu helfen.

Stopp-Proteine verhindern Regeneration der Zellen

Jahrzehntelang galt ein Mangel an für das Wachstum nötigen Substanzen als Hauptursache für das Problem. Erst Mitte der 80er Jahre stellte der Schweizer Neurowissenschaftler Martin Schwab dieses Dogma infrage, berichtet das Wissenschaftsmagazin "bild der wissenschaft". Schwab entdeckte, dass dem zentralen Nervensystem, zu dem neben dem Rückenmark auch das Gehirn gehört, sehr wohl Wachstumsfaktoren in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Seine Schlussfolgerung: Die Nervenzellen an sich könnten sich durchaus regenerieren, sie werden jedoch irgendwie von außen daran gehindert.

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Christopher Reeve: "Gedanken über mein Leben", Bombus Media, 2004, ISBN: 393626130X, 16,90 Euro

Stefan Kulle: "Riss im Glück", Droemer/Knaur, 2005, ISBN: 3426776820, 8,90 Euro

Math Buck, Dominiek Beckers, Cees Pons: "Querschnittlähmung", Springer-Verlag, 1996, ISBN: 3540605754, 19,95 Euro

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Diese Vermutung bestätigte sich anschließend in verschiedenen Experimenten. Dabei kristallisierte sich auch die Hauptursache der unerwünschten Wachstumshemmung heraus: Das so genannte Myelin, das Nervenzellen wie eine Isolationsschicht umgibt, enthält offenbar verschiedene Proteine, die das Wachstum verletzter Nerven stoppen. Gelänge es, diese Stopp-Proteine unschädlich zu machen, könnten die Nervenzellen ihr Wachstumspotenzial ausschöpfen und heilen, begann Schwab damals zu hoffen.

Antikörper lassen Nervenfasern wieder wuchern

Tatsächlich gelang dem Neurowissenschaftler bereits Ende der 80er Jahre ein wichtiger Durchbruch. Er behandelte querschnittsgelähmte Ratten mit einem Antikörper gegen das wichtigste Stopp-Eiweiß, ein Protein mit dem vielsagenden Namen "Nogo-A".

Während durchtrennte Nervenenden bei unbehandelten Tieren lediglich etwa einen Millimeter aufeinander zu wuchsen, ließ die Antikörpertherapie die Nervenfasern buchstäblich wuchern: Innerhalb von nur zwei bis drei Wochen bildeten sich an den verletzten Nerven Auswüchse von sieben bis elf Millimetern Länge. Den Ratten ging es dabei hervorragend - sie torkelten nicht und schienen keine Schmerzen zu haben, wie es bei einer falschen Verbindung zwischen den Nerven zu erwarten gewesen wäre.

Trotz dieses schnellen und überraschend deutlichen Erfolgs brauchten die Schweizer noch 15 Jahre, um die ersten klinischen Tests vorzubereiten. Mittlerweile haben sie gezeigt, dass das Verfahren auch bei Affen funktioniert und einen Antikörper für den Einsatz beim Menschen entwickelt. Er soll mithilfe einer unter der Bauchhaut implantierten Pumpe direkt in die Rückenmarksflüssigkeit verabreicht werden - ein Verfahren, das sich bei Schmerzmitteln bereits bewährt hat. Bevor es jedoch endgültig losgehen kann, müssen Schwab und seine Kollegen das Mittel in weiteren Affenversuchen noch auf mögliche Nebenwirkungen testen. "Wir sind fast fertig, aber eben nicht ganz", sagte Schwab gegenüber "bild der wissenschaft".

Könnten Stammzellen Heilung bringen?

Vollständige Heilung wird jedoch auch die Antikörpertherapie nicht bringen können. Denn nicht nur die Stopp-Proteine im Myelin, von denen es neben Nogo-A noch mindestens zwei andere gibt, spielen eine Rolle bei der Wachstumshemmung, sondern auch die ausgeprägte Narbenbildung an den Nervenenden. Verantwortlich dafür sind die Stützzellen zwischen den Nervenfasern: Sie bilden ein dichtes Gewebe, das den wachsenden Nerven den Weg versperrt. Abhilfe schaffen kann hier möglicherweise ein Enzym, das dieses Gewebe auflockert und durchlässiger macht, wie der Amerikaner Jerry Silver in Tierversuchen zeigen konnte.

Andere Forscher verfolgen andere Ansätze. So gelten beispielsweise Stammzellen als Hoffnungsträger für Querschnittsgelähmte - eine Ansicht, die Martin Schwab nicht teilt: Er stellte nämlich fest, dass die Stoppsignale, die die Nervenzellen blockieren, auch die Stammzellen stoppen. Hingegen scheinen spezielle Stützzellen aus der Nase diese Blockade offenbar umgehen zu können, wie Studien aus Portugal und Australien zeigen. Doch auch dieser Ansatz muss sich erst noch bewähren.

Trotz der Erfolge und der viel versprechenden Ideen bleiben auch noch viele Fragen offen. Welche Aufgabe haben etwa die vielen Stopp-Proteine sonst noch im Körper? Was passiert, wenn man sie abfängt? Und obwohl Wissenschaftler wie Schwab mit Hochdruck an den Antworten auf diese Fragen und der Entwicklung einer Therapie arbeiten, kommt ihre Hilfe für viele Querschnittsgelähmte zu spät - wie beispielsweise für den im vergangenen Jahr verstorbenen Superman-Darsteller Christopher Reeve, der bis zuletzt fest daran glaubte, dass die Wissenschaft noch rechtzeitig ein Heilmittel findet.

DDP
Ilka Lehnen-Beyel/DDP

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