Buenos Aires, sagt man, sei das Paris Lateinamerikas. Gewaltige Paläste, nach europäischem Vorbild errichtet. Schnuckelige Szene-Viertel wie San Telmo, wo im Sommer stolze Paare auf den von Jugendstil-Villen gesäumten Straßen Tango tanzen. In den bis weit nach Mitternacht geöffneten Restaurants werden die zartesten Rindersteaks der Welt serviert. Und in der Casa Rosada, dem Regierungspalast, herrscht eine Präsidentin, die gesagt hat, sie würde selbst im Falle eines Erdbebens nicht ungeschminkt auf die Straße laufen. In hochhackigen Schuhen, versteht sich.
Aber genauso gehören Stadtviertel wie Villa 21 zu Buenos Aires. Ein Slum der übelsten Sorte. Ein Häuschen aus Backstein und Wellblech ist ans nächste gepresst; in den riesigen Pfützen der ungeteerten Straßen schwimmen Müll und Fäkalien. Auf den wenigen frei gebliebenen Landstückchen lagern die Wracks geklauter Autos. Jedes als Ersatzteil verkaufbare Stück wurde ausgebaut, der Rest rostet verlassen vor sich hin. Ein Briefchen mit Coca Base, einem hochgiftigen Abfallprodukt der Kokainproduktion, kostet in Villa 21 einen Peso - ein bisschen mehr als 20 Cent. Frauen rauchen dieses „Paco“ genannte Zeug schon morgens um acht auf offener Straße. Junge Männer haben die Kapuzen ihrer Pullover tief ins Gesicht gezogen und mustern jeden Fremden mit finsteren Blicken.
Brotpreise zählen mehr als Schminke
Egal, ob man reich ist und in einer mondänen Stadtwohnung lebt oder ärmlich in einer Hütte in Villa 21 haust - die Wahrscheinlichkeit, dass man die Präsidentin nicht mag, ist sehr hoch. Und das, obwohl es die Argentinier lieben, schönen Frauen zu Füßen zu liegen. Ende vergangenen Jahres trat Cristina Fernández als Nachfolgerin ihres Gatten Nestor Kirchner das Amt an. Im Februar fanden sie 54 Prozent der Argentinier einfach Klasse. Heute sind nicht einmal mehr 20 Prozent gut auf sie zu sprechen. Denn die Preise von Brot und Rindfleisch zählen mehr als Schminke und Stöckelschuh. Und diese Preise sind in den vergangenen Wochen explodiert. Im Durchschnitt wurden Lebensmittel um gut 20 Prozent teurer, bei Mehl und Speißeöl waren es gar über 100 Prozent. Dabei ist es schon eine Erleichterung, dass man Brot und Fleisch und Milch überhaupt wieder kaufen kann. In den Supermärkten von Buenos Aires waren diese Waren bis vor wenigen Tagen noch ein sehr knappes Gut.
Schuld an Lebensmittelknappheit und Preisexplosion ist ein Konflikt, den Präsidentin Fernández seit März mit den großen Agrarunternehmen des Landes ausficht und dessen Ende noch nicht in Sicht ist. In anderen Ländern haben die weltweit steigenden Lebensmittelpreise Hungerunruhen ausgelöst. In Argentinien aber brach ein wahres Goldfieber aus. Denn in Buenos Aires geben die Argentinier ihr Geld nur aus. Verdient wird es auf dem flachen Land. Dort stehen auf unübersehbaren Flächen Rinder, werden Weizen und Soja angebaut. Von Rindfleisch und Brot essen die Argentinier selbst einen Teil. Soja aber geht fast ausschließlich in den Export, und gerade bei Soja ist der Weltmarktpreis stark gestiegen. So dachte sich Cristina Fernández, der Staat könne von den steigenden Gewinnen einen Teil abzweigen und damit unter anderem Sozialprogramme finanzieren. Im März erhöhte sie die Exportsteuern auf Agrarprodukte - für Sojabohnen von 27 auf 40 Prozent. Je nach Weltmarktpreis werden diese Steuern angepasst und können bis zu 95 Prozent erreichen.
Regieren per Dekret
Nach guter Familientradition ließ die Präsidentin die Steuererhöhung nicht vom Parlament in einem Gesetz absegnen, sondern verordnete sie einfach per Dekret. Schon ihr Mann Nestor Kirchner hatte vier Jahre lang per Dekret regiert und das Parlament damit zu einer bedeutungslosen Schwatzbude degradiert. Er war beim Volk so beliebt, dass sich kaum jemand an seinem autoritären Regierungsstil störte. Cristina Fernández aber stieß mit ihrer Steuererhöhung auf den wütenden Widerstand der Agrarunternehmer. Sie errichteten Straßensperren im ganzen Land, schnitten Buenos Aires von der Versorgung mit Lebensmitteln ab. Immer, wenn sie die Blockade für ein paar Tage lockerten und sich die städtischen Supermärkte wieder ein bisschen füllten, waren die Preise deutlich höher als zuvor. Und die Beliebtheitswerte der Präsidentin waren weiter gesunken. In den reichen Wohngegenden genauso wie in den Armenvierteln.
Die Agrarunternehmer aber verdienten sich mitten in der Krise eine goldene Nase. Nach der Statistik der Zollbehörde wuchsen die Lebensmittelexporte Argentiniens in den ersten fünf Monaten von 2008 im Vergleich zum Vorjahr um 28 Prozent. Die Agrarunternehmer verdienten trotz erhöhter Steuern 63 Prozent mehr, die Soja-Exporteure gar 70 Prozent. Die Präsidentin hat also gute Argumente. Und trotzdem ist sie jetzt zum ersten Mal ein Tippelschrittchen zurückgewichen. Sie will eben auch beliebt sein und auch den Argentiniern liegt die wirtschaftlichen Verhältnisse der eigenen Familie näher als die Statistiken der Volkswirtschaft.
Nach langem Streit hat Cristina Fernández also zugestanden, die Steuererhöhung vom Parlament überprüfen zu lassen. Man könnte sagen, sie schleiche sich aus der Verantwortung und bürde die Last einfach anderen auf. Aber man kann es auch positiv sehen: Endlich nimmt eine Präsidentin die anderen vom Volk gewählten Gremien ernst. Argentinier liebten schon immer schillernde und starke Figuren an der Spitze des Staats, hießen sie nun Juán Perón oder Carlos Menem. Auch Nestor Kirchner, der immer ein bisschen schüchtern wirkte, war in seinen Taten von diesem Schlag. Doch Glamour, Glanz und Stärke haben den Argentiniern nur ganz selten Glück und meistens Chaos gebracht. Wenn sich nun die schöne und starke Cristina Fernández in der Krise gezwungen sieht, ein bisschen mehr Demokratie zu wagen, ist das vielleicht kein schlechter Schritt.