Bosporus Unfreundliche Töne vor der Kanzler-Visite

Die anfängliche Euphorie hat sich gelegt. Wenn Gerhard Schröder an diesem Dienstag nach einem Abstecher in Bosnien seine Türkei-Visite beginnt, ist erheblicher Gesprächsbedarf angesagt.

Als der Kanzler vor gut einem Jahr am Bosporus weilte, war die Stimmung auf beiden Seiten noch ganz anders. Für seine klaren Worte, dass die Türkei in die EU gehöre, bekam er damals überall begeisterte Zustimmung. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, zu dem Schröder nach anfänglicher Distanz auch ein enges persönliches Verhältnis entwickelt hat, lobte ihn als besten Freund seines Landes in Europa.

Innenpolitisch nützt Schröder diese Türkei-Treue kaum. Laut jüngsten Umfragen sind inzwischen drei Viertel der Bundesbürger gegen eine volle EU-Mitgliedschaft. Aber auch in der Türkei selbst geht die die Zustimmung zurück. Befürchtungen, zu viele Zugeständnisse in sensiblen Punkten machen zu müssen, schlagen dabei ebenso zu Buche wie das Gefühl in der Bevölkerung, vom Tempo der anstehenden Veränderungen überfordert zu werden.

Gewaltige Hausaufgaben für die Türkei

In Berlin wird das verstärkte Aufflammen nationalistischer Gefühle in der Türkei mit Besorgnis registriert. Am Fahrplan für die Aufnahme der offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU Anfang Oktober soll sich deshalb nichts ändern. Aber auch dabei gibt es noch einige Unsicherheiten. Sollte sich am 29. Mai eine Mehrheit der Franzosen beim Referendum gegen die EU-Verfassung entscheiden, halten Diplomaten es nicht für ausgeschlossen, dass Staatspräsident Jacques Chirac seine bisherige Haltung revidiert, den Türken den Weg in die EU offen zu halten.

Schröder will der Türkei unmissverständlich zu verstehen geben, dass noch viel Arbeit vor ihr liegt, um die Eintrittskarte nach Europa zu bekommen. Mit Rücksicht auf gestiegene Empfindlichkeiten sollen die Forderungen nach einem höheren Reformtempo eher intern geäußert werden. Doch in sein Programm hat Schröder auch Termine aufgenommen, die den Gastgebern klar machen sollen, welche gewaltigen Hausaufgaben sie noch zu erledigen haben. Dazu gehört aus deutscher Sicht der umfassende Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte. Dafür sei in der Türkei noch "Mentalitätswandel" notwendig, forderte Schröder vor der Abreise.

Treffen zwischen Schröder und dem Patriarchen von Konstantinopel

Bewusst hat er sich deshalb beim Patriarchen von Konstantinopel in dessen Amtssitz im Phanar in Istanbul angesagt. Bartholomäus I. ist das "Ehrenoberhaupt" der gesamten orthodoxen Christenheit, was von der offiziellen türkischen Politik aber ignoriert wird. Der türkische Generalstab hatte in den letzten Tagen eine Status-Aufwertung für den Kirchenführer, die Wiedereröffnung einer seit über 30 Jahren geschlossenen Priesterakademie sowie mehr Rechte für die noch etwa 150.000 im Lande lebenden Christen noch einmal ausdrücklich abgelehnt.

Mit Erstaunen wurde in Berlin auch zur Kenntnis genommen, dass von türkischer Seite ganz kurzfristig die Unterzeichnung eines Abkommens über eine gemeinsame Rechtspartnerschaft während der Kanzler-Visite abgesagt wurde. Mit der Vereinbarung sollen türkische Richter und Staatsanwälte mit deutscher Hilfe mit modernen rechtsstaatlichen Methoden vertraut gemacht werden.

Die Türkei weist den Genozid-Vorwurf brüsk zurück

Eine Rolle wird bei Schröders Gesprächen auch der Umgang Ankaras mit der Tötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern unter osmanischer Herrschaft spielen. Der Bundestag hatte anlässlich des 90. Jahrestags des Beginns der Massaker am 24. April 1915 fraktionsübergreifend die Türkei aufgefordert, sich zu der historischen Verantwortung dafür zu bekennen. In der Entschließung wurde auf den Begriff des Völkermords verzichtet, um Schröders Besuch nicht zu belasten. Falls sich an Ankaras Verhalten nichts ändert, soll der Text aber entsprechend verschärft zur Abstimmung gestellt werden. Die Türkei weist weiter brüsk den Genozid-Vorwurf zurück und hat in jüngster Zeit scharf auf entsprechende Beschlüsse des polnischen und anderer Parlamente reagiert. Aus Sicht der "Hardliner" in Ankara ist die Armenien-Frage nur ein Argument, um einen EU-Beitritt zu torpedieren.

Joachim Schucht/DPA