So voller Selbstvertrauen war die indische Regierungskoalition unter Ministerpräsident Aral Behari Vajpayee, dass sie die Parlamentswahl sogar um sechs Monate vorzog. "India Shining"(Indien glänzt) verkündete die Nationale Demokratische Allianz (NDA) immer wieder, fest auf einen Sieg vertrauend. Doch der indische Wähler scheint an dieses glänzende Indien nicht zu glauben: Als klarer Sieger aus der Parlamentswahl ging am Donnerstag das Bündnis der oppositionellen Kongresspartei unter Sonia Gandhi hervor. Vajpayee trat noch vor Verkündung des Endergebnisses zurück.
Die 57-jährige Sonia Gandhi könnte nun das Erbe der Gandhi-Nehru-Dynastie antreten. Als Regierungschefin würde die gebürtige Italienierin in die Fußstapfen ihres Ehemannes Rajiv Gandhi und ihrer Schwiegermutter Indira Gandhi treten (die beide ermordet wurden) - und sie würde Indira Gandhis Vater Jawaharlal Nehru folgen, dem ersten Ministerpräsidenten eines unabhängigen Indiens. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die für eine absolute Mehrheit benötigten Koalitionspartner mitspielen.
Sonia Gandhis italienische Herkunft ist problematisch
Das Kongress-Bündnis ging ohne Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten ins Rennen - wohl wissend, dass nicht nur mögliche Partner, sondern auch weite Teile der Bevölkerung Sonia Gandhi wegen ihrer ausländischen Herkunft ablehnen. Ein Thema, dass Vajpayees hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) im Wahlkampf weidlich ausschlachtete. Ohne Erfolg, wie es nun scheint.
Die von der BJP angeführte Koalition wiegte sich auch wegen der Umfragen in Sicherheit: Sie sagten der NDA einen klaren Sieg, wenn nicht gar eine absolute Mehrheit voraus. Der 79-jährige Regierungschef, der sich in seiner Freizeit der Poesie widmet und mit seinen Reden die Massen mitreißen kann, war populär wie nie. Umso überraschender kam die Ohrfeige für die hindu-nationalistische BJP: Er sei "fassungslos", sagte ihr Generalsekretär Pramod Mahajan. "Es scheint, als wäre alles schief gelaufen."
Messabare Erfolge von Vajpayee
Dabei konnte die NDA messbare Erfolge vorweisen. Die Wirtschaft wuchs in dem Ende März abgelaufenen Finanzjahr nach Regierungsschätzungen um mehr als acht Prozent, die Devisenreserven überstiegen die Marke von 100 Milliarden Dollar, und die Zinsen sind niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Vajpayee machte sich außerdem den Frieden mit dem Erzfeind Pakistan zur Herzenssache.
Doch Indien glänzt eben nicht überall. Besonders auf dem Land ist von dem "Feelgood-Factor", dem von der NDA propagierten Wohlfühl-Faktor, kaum etwas zu spüren. Zwei Drittel der Inder, die Masse der Wähler, leben unter teils erdrückenden Bedingungen von der Landwirtschaft. Immer wieder flüchten Bauern in den Selbstmord, weil sie in ihrer wirtschaftlichen Not keinen anderen Ausweg mehr sehen. Auch nach fünf Jahren NDA-Regierung lebt noch ein Viertel der mehr 1,02 Milliarden Inder unter der Armutsgrenze. Fast die Hälfte kann weder lesen noch schreiben.
Viele Versprechen vor der Wahl
Die Kongresspartei versprach vor der Wahl, Bauern stärker zu fördern. Gegen Armut und Arbeitslosigkeit solle vorgegangen werden, Schulen und Krankenhäuser sollten gebaut werden. Wie diese hehren Projekte finanziert werden sollen, das sagte sie nicht. Kritiker werfen der traditionsreichen Partei ohnehin vor, für viele der Fehlentwicklungen selber verantwortlich zu sein. Schließlich war es der Kongress, der die Geschicke des Landes seit dessen Unabhängigkeit 1947 fast durchgängig lenkte. Vajpayee war der erste Ministerpräsident, der die größte Demokratie der Welt eine ganze Legislaturperiode lang regierte, ohne der Kongresspartei anzugehören.