Schottland hat sich abgespalten. Es ist nicht mehr Teil von Großbritannien. Es ist sogar noch schlimmer: Schottland ist nicht mehr auffindbar.
In der vergangenen Woche mietete ich in London einen Leihwagen und gab im Navigationsgerät Stirling in Schottland als Ziel an. Es erschien: nichts. Neues Navi, wieder Stirling als Ziel, wieder nichts. Das ging dreimal so. Schottland, stellte sich heraus, ist im englischen Koordinatensystem einfach nicht vorgesehen.
Vielleicht war es nur ein besonders schlaues Gerät, ein im doppelten Sinne wegweisendes. Am 18. September stimmen die Schotten über ihre Unabhängigkeit ab. Es wird eine enge Wahl. Die Meinungsforschungsinstitute streiten nun darüber, wie eng die Wahl wird. Noch liegen die „Better Together“-Leute vorn. Aber es sind noch ein paar Wochen, und die „Yes“-Kampagne nimmt Fahrt auf. Sagen die „Yes“-Campaigner.
Weil man den Meinungsforschern eben nicht vertrauen kann, fuhr ich nach Schottland und führte eine eigene Umfrage durch. Als ich ankam in Schottland regnete es natürlich, und es war kalt. Das ist relativ normal in Schottland. Alles andere wäre sehr unschottisch.
Am Tag meiner Ankunft tobte gerade eine Schlacht, die Schlacht von Bannockburn. Es ist die schottische Mutter aller Schlachten. Vor genau 700 Jahren besiegten die Schotten auf einer Wiese nicht weit von Stirling die zahlenmäßig hoch überlegene englische Armee von König Edward II. Der siegreiche schottische König von damals, Robert the Bruce, ist heute noch ein Nationalheiligtum und thront zu Pferde als Denkmal über dem Gelände. Er ist noch heiliger als der Nationalheilige William Wallace, den Mel Gibson in „Braveheart“ spielte. Das war von 20 Jahren und zu einer Zeit als Gibson noch alle Tassen im Schrank hatte.
Zum 700. Jubiläum stellten nun mehrere Hundert Statisten die Schlacht von Bannockburn nach. Dreimal täglich, samstags und sonntags für jeweils 45 Minuten. Die Engländer verloren 0:6, und die englischen Statisten sahen schon nach der ersten Vorstellung ziemlich niedergeschlagen aus. Robert the Bruce wurde von dem schottischen Bauern Roy Ramsay gespielt. Er gibt den König nebenberuflich schon seit Jahren und gewinnt immer. Roy trug während der Schlacht ein Mikrofon für die vielen tausend Zuschauer, größtenteils Schotten natürlich und größtenteils Patrioten. Und kurz bevor er seine Truppen zum Sieg führte, fiel ihm ein, dass er seine Autoschlüssel irgendwo verloren hatte. „Wo sind die verdammten Schlüssel?“, fragte er laut und für alle vernehmlich hinter der Bühne. Und plötzlich war die historische Schlacht angekommen in der Gegenwart, in der wie damals um die Unabhängigkeit gekämpft wird. Dieser Kampf wird über die Medien ausgetragen. Im Fernsehen, in den Zeitungen, über Facebook und Twitter. Vor kurzem erklärte die berühmte Autorin J.K. Rowling, dass sie nichts hält von der Unabhängigkeit. Sie sagte, die Union mit England funktioniere doch seit 300 Jahren sehr ordentlich, und was das Ganze soll. Das ist sicherlich ein Punkt. Sie spendete sogar eine Million Pfund für die Unionisten von „Better Together“. Rowling wurde daraufhin wüst als Verräterin beschimpft und im Netz von Trolls verfolgt. Der Streit entzweit Familien und wird zusehends schmutziger, weil sehr ideologisch und sehr emotional.
Nur zwei Meilen vom Bannockburn-Festival entfernt feierte die Armee in Stirling am selben Tag den „Armed Forces Day“. David Cameron war eigens aus London eingeflogen, und natürlich war Schottlands erster Mann auch da, Alex Salmond, der Chef der „Scottish National Party“. Er schüttelte Cameron zur Begrüßung die Hand, und der Premier schaute dabei so angewidert, als sei ihm der Leibhaftige erschienen oder wenigstens Jean-Claude Juncker. Cameron tat dann das, was er nicht hätte tun sollen. Er warb für die Union. In den schottischen Zeitungen wurde er dafür gegeißelt. Er habe den überparteilichen Zweck dieses Tages missbraucht. Sein Gegenspieler Salmond schwieg einfach. Salmond ist ein gewiefter, schlauer Taktiker.
Man muss überhaupt sagen, dass sich die Vertreter von „Better Together“ zuweilen recht tölpelhaft anstellen. Jüngst rechnete der in Edinburgh geborene Minister für Schottland, Danny Alexander, vor, dass die Schotten pro Kopf 1400 Pfund sparen würden, wenn sie im Königreich verblieben. Das hätte ja gereicht. Aber er fuhr fort, dass jeder Schotte mit diesen 1400 Pfund zehn Wochen lang jeden Tag ununterbrochen Fish and Chips verschlingen oder 280 Hotdogs während des Edinburgh Festivals essen könne. Dazu stellte die Regierung ein Video mit Lego-Figuren online, die wie schottische Karikaturen aussahen. Das sollte lustig sein, war es aber nicht, sondern aus schottischer Perspektive ziemlich englisch, weil überheblich. Sogar Lego beschwerte sich, und das Video wurde eilig entfernt.
Zur Zeit gibt es im noch Vereinten Königreich neben der Queen wahrscheinlich nur einen Menschen, den Engländer, Waliser, Nordiren und Schotten überparteilich mögen: den schottischen Tennisspieler Andy Murray, obschon frisch gescheitert in Wimbledon. Der hat aus Fehlern offenbar gelernt und sagt nicht mehr, dass er für jede Mannschaft sei, die bei der Fußball-WM gegen England gewinnt. Das wären außerdem recht viele. Murray hält sich auch in der aktuellen Debatte zurück; er hat sich noch nicht dazu geäußert, ob er im September mit Ja oder Nein stimmt und ist damit in guter Gesellschaft.
Meine persönliche Meinungsumfrage in Schottland endete natürlich in einem Pub einer Ortschaft mit dem putzigen Namen Tillicoultry. In dem Pub saßen vier Männer und eine Frau und schauten ein Spiel der Fußball-WM. Sie tranken viel Bier, und sie lachten viel. Nach dem dritten Bier, immer noch erste Halbzeit, bat ich um eine kleine repräsentative Umfrage – unabhängiges Schottland oder nicht? Zwei Männer waren dafür, zwei dagegen. Die Frau enthielt sich der Stimme und wurde daraufhin ausgebuht. Dann bestellten sie noch ein Bier, schauten wieder Fußball-WM. Und freuten sich sehr, dass England so früh ausgeschieden war.