London "Behördliche Hinrichtung" in der U-Bahn

Nach den Anschlägen erschoss die Londoner Polizei in der U-Bahn einen Brasilianer, weil er sich verdächtig verhalten haben soll. Ein Fernsehbericht lässt nun Zweifel an der Darstellung der Polizei aufkommen.

Dreieinhalb Wochen nach der Tötung eines unschuldigen Brasilianers durch britische Terrorfahnder sind Aufnahmen von Überwachungskameras aufgetaucht, die die Darstellung der Polizei erheblich in Frage stellen. Laut einem Bericht des Senders ITV benahm sich der 27-jährige Jean Charles de Menezes in keinster Weise verdächtig, als er die U-Bahn-Station Stockwell betrat.

Auch habe er keine dicke Jacke, sondern eine normale Jeansjacke getragen. Der Londoner Polizeichef Ian Blair hatte die tödlichen Schüsse auf den Brasilianer damit erklärt, dass der Mann von den Polizisten angesprochen worden sei und nicht auf ihre Anweisungen gehört habe. Augenzeugen hatten zudem berichtet, der Brasilianer sei durch die U-Bahn-Station gerannt, von Polizisten in Zivil zu Boden geworfen und dann erschossen worden.

Dem ITV-Bericht zufolge zeigen die Überwachungskamera-Aufzeichnungen aber, dass Menezes die U-Bahn-Station Stockwell ohne jede Hast betrat und sich eine Zeitung kaufte, ehe er in eine Bahn stieg und sich hinsetzte. Aus einem Untersuchungsbericht gehe zudem hervor, dass die Polizisten Menezes für einen der Bombenleger vom 21. Juli hielten. Obwohl ihnen eine Kamera zur Verfügung gestanden hätte, um diese Einschätzung durch Kollegen überprüfen zu lassen, sei das aber nicht geschehen. Die unabhängige Beschwerdekommission der Polizei, die den Fall untersucht, wollte sich zum Wahrheitsgehalt der von ITV zitierten Dokumente nicht äußern. "Wir wissen nicht, von welcher Organisation oder von wem die im Fernsehen gezeigten Dokumente stammen", erklärte die Kommission.

"Behördliche Hinrichtung"

Eine Gruppe, die die Familie des Opfers unterstützt, erklärte, nach dem Bericht ähnele die Tötung Menezes' einer "behördlichen Hinrichtung". Sie forderte die Polizei auf, ihre Taktik gezielter Todesschüsse gegen mutmaßliche Selbstmordattentäter fallen zu lassen. "Die Darstellung der Polizei hat sich nicht nur als unkorrekt erwiesen, sondern die Öffentlichkeit wurde zudem auch bewusst irregeführt. Es ist offensichtlich, dass uns Lügen und Halbwahrheiten über Jeans Tod mitgeteilt wurden", sagte ein Sprecher der Gruppe der Nachrichtenagentur Reuters. Nun müsse man sich auch ernsthaft mit der Rolle des Londoner Polizeichefs Ian Blair in dem Fall befassen.

AP · Reuters
AP/Reuters