Mahatma heißt "Große Seele": Der Erfinder des Gewaltlosen Widerstands gegen die britische Kolonialmacht wurde vor 149 Jahren im Bundesstaat Gujarat geboren. Was würde der Vater der Unabhängigkeit Indiens vor 61 Jahren heute über sein unruhiges Land sagen, das einerseits als IT-Weltmacht durchstartet, in dem aber mehr als 750 Millionen Menschen von etwas über einem Dollar pro Tag knapsen müssen und die Animositäten zwischen Hindus und Muslimen noch immer zu Gewaltunruhen und Bombenattentaten führen? stern.de besuchte Urenkel Tushar Gandhi in Mumbai, um zu erfahren, was er heute über seinen Urgroßvater denkt.
In der stillen, mit hohen Bäumen bestandenen Straße in Mumbais Vorort Santa Cruz mampft eine Heilige Kuh vor sich hin. Fromme Hindus kaufen der Bäuerin, die daneben steht, für ein paar Rupien etwas Grünfutter ab und füttern das Tier, das vermutlich nicht um seine Heiligkeit weiß, als gute Tat. Eine schöne friedliche Szene im oft so gewalttätigen indischen Alltag. "Das hätte Bapu gefallen," sagt Urenkel Tushar Arun Gandhi, 48, der in einer äußerst bescheidenen kleinen Wohnung im Nachbarhaus lebt. "Bapu", Vater nennt den Urgroßvater nicht nur die große Gandhi-Familie, sondern die ganze Nation: ein kleiner kahlköpfiger Mann mit seiner inzwischen berühmten Rundbrille, der mit nicht viel mehr als einer selbst gesponenen Leinenwindel bekleidet und einem Stecken in der Hand die friedliche Loslösung von der Britischen Kolonialmacht erzwang und Indien 1947 in die Unabhängigkeit führte. Der Schock über das Attentat am 30. Januar 1948, als ein fanatischer Hindu-Anhänger den 78-jährigen Friedensstifter in Neu Dehli erschoss, wirkt bis heute in kleinen Beben nach.
"Let's kill Gandhi"
"Let's kill Gandhi" heißt denn auch provokativ das dicke Buch, das Tushar Gandhi kürzlich über den Mord an seinem berühmten Vorfahren schrieb. "Keine neue Verschwörungstheorie wie bei den Kennedys", winkt er ab, aber doch Hintergründe über die Attentäter, rechte Hindu-Gruppen, die Gandhis revolutionäre Ideen, etwa die Ablehnung des Kastensystems und seine religiöse Tolleranz " Ich bin ein Hindu, ein Muslim, ein Buddhist, ein Christ, ein Jude" für ihre Großmachtträume sehr gefährlich hielten - Und immer noch halten. "Diese ultrarechten Gruppierungen stecken auch heute hinter religiösen Unruhen wie 1993 in Mumbai und 2002 in Gujarat, wo über tausend Muslime umgebracht wurden," sagt der Gandhi-Nachfahre. Das Buch hat ihm Anerkennung im Ausland, aber wenig politische Freunde in Indien eingebracht.
Ist es eine Bürde, einen so berühmten Namen zu tragen, Herr Gandhi? "Natürlich ist es eine riesige Verantwortung, viele Leute setzen überzogene Erwartungen in mich", gibt Tushar Gandhi, der als 1960 geborener Sproß den Mahatma nicht mehr persönlich erlebte, gerne zu. Vor einigen Jahren versuchte er, als Politiker Karriere zu machen und scheiterte. War das Vorbild zu erdrückend? "Du bist ein kleiner Schößling unter einem mächtigen Baum", zitiert der junge Gandhi seine geliebte Großmutter Sushila, die eine enge Weggefährtin des Mahatma war, "entweder du gehst kaputt oder du wächst in seinem Schatten zu einem eigenen starken Baum heran." Tushar sagt, er habe die Hinterlassenschaft "seines" Bapu akzeptiert.
Mann voller Widersprüche
"Gandhi war kein Heiliger, sondern ein Mann voller Widersprüche," sagt der Urenkel, in Anspielung auf die schwierige Beziehung, die der überlebensgroße Mahatma zu mindestens zwei seiner vier Söhne hatte, "das macht ihn für mich um so menschlicher." Der Künstler, Politiker und Schriftsteller sitzt hinterm einfachen Holzschreibtisch und beantwortet nebenbei über den uralten Palm-PC ein paar Interviewanfragen indischer Medien zum Geburtstag des Mahatmas. Um ihn herum Kisten und Kartons mit Büchern, Gandhibüsten, alte Fotografien und ein großes Bild von Gandhis Frau Kasturba, mit der der Mahatma als 13jähriger Junge von den Eltern verheiratet wurde und die zeitlebens unter den despotischen Anfällen des Friedensapostels litt. "Meine Urgroßmutter Kasturba kommt bei den Biographen viel zu schlecht weg, dabei war sie eine kluge, realistische Frau, die sehr viel Einfluss auf Bapu hatte", sagt der massige Mann mit langen dunklen Haaren, der dem zarten kleinen Asketen Gandhi, wie man ihn durch Ben Kingsley verkörpert im Oscar gekrönten Filmklassiker "Gandhi" kennt, nicht sonderlich ähnlich sieht. Nur seine Augen haben den gleichen intensiven Blick, und die Eloquenz des Urgroßvaters, von Beruf Rechtsanwalt, hat sich wohl auch vererbt. "Dabei hat er als junger Mann vor Gericht gestottert und Angst vor seinem eigenen Schatten gehabt," sagt er, erst Kasturba, die kluge Analphabetin, habe ihn aufgebaut, ihn zu dem gemacht, der er für alle Inder ist.
Seine Ideen leben weiter
Was halten junge Menschen von Gandhis Philosophie der Satyagraha, des gewaltlosen Widerstands? "Manche seiner asketischen Ideen wie das Tragen selbst gesponnener Kleidung oder das schlichte Leben im Ashram werden in einer Zeit des Konsumsrausches belächelt", sagt Tushar, niemand würde heute mehr für Bapu seinen Lifestyle ändern. "Aber wenn, wie in den letzten Wochen ständig Bomben explodieren, dann sehe ich doch viele junge Menschen, die mit Kerzen in der Hand friedlich demonstrieren, statt nach Rache und Gegengewalt zu rufen. Da erkenne ich doch die Ideen meines Urgroßvaters wieder."
Am 2. Oktober wird sich ein großer Teil der etwa 130 Mitglieder der Gandhi-Familie in Mani Bhavan, Bapus kleinem Haus einfinden, das so seltsam bescheiden und fast anachronistisch in der Innenstadt der reichen Finanzmetropole Mumbai steht, die damals Bombay hieß. Noch gibt es viele Alte, die sich an den kleinen Mann mit den großen Ideen erinnern, der zu Fuß durch die Straßen stapfte, wo sich heute der Verkehr stundenlang staut. Was würde der Mahatma zu dem ruhe- und rastlosen, ja gewalttätigen Indien von heute sagen? "Er wäre ohne Zweifel sehr enttäuscht", sagt der Urenkel", aber Bapu war immer auch ein Optimist. Er würde nie den Glauben an das Gute verlieren!"