Die beiden jungen Inderinnen, die sonst in Kalifornien leben, amüsierten sich gerade so prächtig. Zum Neujahrsbesuch in Indien hatten sie mit ihren Freunden im J.W. Marriott, einem Fünf-Sterne-Hotel in Mumbais eher stillen Promi-Vorort Juhu, Sylvester gefeiert. Als sie um viertel vor zwei Uhr an den beliebten Strand von Juhu spazieren wollten, wurden sie erst verbal angemacht und dann von einem angetrunkenen Mob von 60 bis 70 jungen Männern angefallen. Es war wie im Horrorfilm. Während ihre männlichen Begleiter zu Boden getrampelt wurden, grapschten die Hooligans nach den Frauen, wo immer sie einen Zentimeter Haut zu fassen bekamen, zerrten sie an den Haaren und zerrissen ihre Blusen.
Obszöne Neujahrs-Szenen aus einem prüden Land, wo nicht einmal ein Kuss auf der Leinwand erlaubt ist! Erst nach bangen Minuten gelang es zwei Kameraleuten, die zufällig vor dem Marriott-Hotel auf Bollywood-Filmstars und -Sternchen gewartet hatten, Verkehrspolizisten herbeizuholen, die den Mob mit Schlagstöcken auseinandertrieben. Die Bilder des Pöbels, die die Presseleute der "Hindustan Times" geschossen hatten, gingen um die Welt.
Tolerante Stadt steht unter Schock
Seither hat Indien einen Sicherheitsskandal wie Deutschland mit dem Münchner U-Bahn-Video. Und meine Megastadt Mumbai, die trotz 18 Millionen Einwohner auf engstem Raum immer als die sicherste Stadt in ganz Indien galt, steht unter Schock. Dabei war Mumbai, das frühere Bombay, immer als tolerant und kosmopolitisch bekannt. Denn hier leben Hindus, Parsen, die dem zorastrischen Glauben angehören, Moslems, Christen und Buddhisten, dunkelhäutige Tamilen aus dem tiefen Süden und hellere Zuzügler aus dem nördlichen Himalaya zwar nicht wie in einem großen melting pot, aber doch relativ friedlich nebeneinander.
Nirgendwo sieht man soviele Studentinnen, die nicht Sari sondern Jeans tragen und Cappuccino nippend in den Coffeeshops sitzen. Hier dreht Bollywood, die indische Filmindustrie, die größten Schmachtfetzen einträchtig für die Hindu- und für die Moslem-Welt. "In Mumbai kannst du als Frau bis Mitternacht auf die Straße gehen," sagte meine Freundin Megha noch vor kurzem, "in Dehli schließt du dich besser zu hause ein. Da ist es nach Dunkelheit lebensgefährlich."
Vielleicht wären gerade Mumbais Frauen weniger schockiert, wenn die Polizei endlich einmal konsequent und nicht nach dem Muster der drei Affen "nichts hören, nichts sehen, nichts sagen" reagiert hätte. Erst behaupteten die Ordnungshüter, sie hätten keine Anzeige erhalten; tatsächlich hatten die Opfer von Juhu sich vor Schreck schnellstens in die USA abgesetzt. Aber die Beweisbilder? Obwohl die Polizei das Fotomaterial der Kameraleute vorliegen hatte, brauchte es Tage, bis sie 14 eindeutig identifizierbare junge Männer verhaftete- und noch viel schneller gegen eine Kaution von 20 Dollar wieder frei liess.
Fotografen beschuldigt
Es fand sich ein Rechtsaußen-Politiker der radikalen Hindu-Partei Shiv Sena, der gerne aussagte, die Verdächtigen hätten sich bei ihm auf einer Neujahrsparty befunden. Alle 14. So ein Zufall! Der Vater eines der Grapscher beschuldigte gar die Kameraleute der Sensationslust. "Warum haben sie die Bilder geschossen statt den Frauen zu helfen? Sie dachten nur an ihre Karriere, um damit die unserer Söhne zu ruinieren!"
Die Kriminalität gegen Frauen ist in Indien immens. Jede Stunde werden auf dem Subkontinent 18 Frauen vergewaltigt, also Schwerverbrechen im Drei-Minuten-Takt. Gegenüber 1971 haben die Sexualstraftaten gegen Frauen um 700 Prozent zugenommen, wie das Familienministerium in New Dehli bestätigte, andere Delikte dagegen nur um 300 Prozent. "Todesstrafe für Vergewaltiger" fordern daher auch männliche Hardliner in den Tageszeitungen.
Männer sind verunsichert
"Sind denn unsere indischen Männer sexuell durchgeknallt?" fragt eine Userin im Web. Ganz genau, meint Dr. Vaidyanathan, Kinderarzt und Psychologe aus Mumbai, "es geht hier um einen kulturellen Zusammenstoß der Geschlechter." Früher ging eine brave Ehefrau nicht allein aus dem Haus, aber ihre Töchter erobern heute das erste Mal in Indiens Geschichte ihren Platz im Büro, in der Uni, im Zug, auf den Parties und in der Öffentlichkeit. Und die Männer? Sind völlig verunsichert. Vor allem die Zuwanderer aus Indiens Armenhäusern Bihar und Uttar Pradesh sind von der schönen neuen Frauenwelt völlig überfordert. Die Fälle von sexueller Belästigung, so der Arzt, breiteten sich aus wie eine Epidemie. "Diese angestaute Wut braucht nur einen winzigen Auslöser wie Stress, Alkohol, Ärger oder eine winzige Provokation- dann rasten die Männer aus."
Auch ausländische Touristinnen sind Opfer des indischen Männlichkeitswahns. Ausgerechnet in Agra, wo das strahlende Taj Mahal, Denkmal unsterblicher Liebe des Sultans Shah Jahan zu seiner Frau Mumtaz steht, wurden vergangenen Oktober zwei Japanerinnen von einem Hotelbesitzer mit k.o.-Tropfen bewusstlos gemacht und vergewaltigt. Der nächste Fall war eine junge Finnin, die in Navi-Mumbai, einem Vorort der Megastadt, sexuell misshandelt wurde. Für 2008 sieht die Bilanz nicht besser aus: sechs Fälle in nur drei Wochen. In einem Tempel der heiligen Pilgerstadt Pushkar in Rajasthan wurde eine 28jährige Amerikanerin von einem Hindu-Priester sexuell belästigt. Der fromme Mann gab vor, eine Puja, eine Opferzeremonie mit ihr zelebrieren zu wollen. Der Security Guard eines Hotels in Kochi, Kerala konnte seine Finger nicht von zwei minderjährigen Kanadierinnen im Billiard-Raum lassen. Der Vater der Mädchen erstattete sofort Anzeige. Das tat auch eine britische Journalistin, die den Hostelbesitzer in der blauen Stadt, wie Udaipur auch heißt, nachts um eine zusätzliche Wolldecke gebeten hatte- und von ihm vergewaltigt wurde.
"Diese Zwischenfälle können das Image unseres Landes ruinieren," so der frühere Polizeichef von Mumbai M.N. Singh, "Indien muss unbedingt etwas für die Sicherheit seiner 4,4 Millionen Touristen im Jahr tun!" Aber was? "Ein paar Touristenpolizisten, die nicht einmal englisch können. Was nützt das?," schimpfte die Hindustan Times. Zumal Ausländerinnen, vor allem blonde Nordländerinnen, in Indien leider einen unausrottbaren Ruf als sexuell freizügige Wesen haben. Warum? Wahrscheinlich, weil Hollywood seine Stars früher auf die westliche Chauvi-Tour als Lustobjekte und Sexbomben darstellte. Vielleicht auch, weil Ausländerinnen in Goa unbedingt oben ohne baden, obwohl es züchtige Einheimische brüskiert.
Dress-Code für Sicherheit
Indien als Grapscher-Land? Viele lokale Reiseunternehmen geben ihren ausländischen Klienten neuerdings Handzettel mit "Bloß nicht"-Tipps auf den Weg, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Dazu gehört, das Hotel stets über seine Pläne zu informieren, nicht zu kiffen oder in der Öffentlickeit Alkohol zu trinken und als Frau möglichst nicht allein nachts auszugehen. Und natürlich der richtige Dress code! "Mädels, lasst die flotten Topps, schulterfreien T-Shirts, Miniröcke und durchsichtige oder figurbetonten Gewänder zu Haus," rät der "Lonely Planet," die Reise-Bibel für Millionen Rucksacktouristen.
Gewitzte Westlerinnen tragen ohnehin einen Ehering, auch wenn sie nicht verheiratet sind, das schreckt manche Verehrer im Vorfeld ab. Mein Tipp: Sonnenbrille, Baseballkappe und weite Hipphopperhosen, garantiert asexy, tragen. Darin fühle ich mich am Strand von Juhu, wo natürlich auch zigtausende von netten, friedlichen Indern in Saris und langen Gewändern spazieren gehen, absolut angezogen. Wenn doch mal wieder eine Gruppe Testosteron strotzender Jugendlicher Krawall suchend auf mich, die artig aussehende Europäerin mittleren Alters, zusteuert, dann schlage ich im letzten Moment einen Haken und dribbele vorbei. Cool, wenn auch nicht ganz so elegant wie Bayern-Stürmer Frank Ribery. Trotzdem bleibt den verladenen Jungmännern der Mund offen - und ich gehe seelenruhig weiter.