Wo wollen die alle hin? Sind die auch um 10 Uhr zum Geschäfts-Frühstück eingeladen? Als ob alle 18,5 Millionen Einwohner gleichzeitig auf den wenigen Arterien ins Herz der Finanzmetropole Mumbai, die früher Bombay hieß, drängen! Und nun steht die "Maximum-City" mal wieder kurz vor dem Infarkt. Was macht man im Stau, wenn man nicht mit seinem Handy spielt? Der Mechaniker nebenan studiert zum Beispiel das dreckige Chassis eines Lastwagens, der nur Zentimeter neben meinem Taxifenster hält. Oder zählt die blauen Dieselwolken, die er aus halb kaputten Auspuffrohren spuckt.
Bitte hupen Sie!
"Please horn!" steht am Blechrahmen, bitte hupen! Das tun bereits Hunderte von Motorrikscha-Taxis, die sich stets wie ein Schwarm von Killerbienen ins Verkehrsgetümmel stürzen. Rikschas sind die Waffe des kleinen Mannes. Wie Rambos verteidigen sie jeden, aber auch jeden freien Quadratzentimeter Straße gegen die PS-starken Wagen. Sie nehmen jeden Zweikampf auf gegen die SUVs und abgedunkelten Limousinen, in denen uniformierte Chauffeure ihre Herrschaften in die Finanzmeile fahren. Der Stop-and-go macht Arm und Reich für ein paar Stunden gleich.
Die Straßen gehören nicht nur den Motorisierten. Bei fünf Stundenkilometer Durchschnittsgeschwindigkeit können die Lastenträger mit ihren langen Handkarren voller Holz, Kohle, Baumwolle gut mithalten. An den Ampeln klopfen Lumpenkinder so lange an die Scheibe, bis ich vor meinem Gewissen kapituliere und ihnen die 5. Box Papiertaschentücher abkaufe, obwohl ich keinen Schnupfen habe. Heerscharen von Fußgängern schlängeln sich zwischen den wartenden, aber auch startenden Fahrzeugen hindurch. Ein Wunder, dass die Frauen sich mit ihren bunten Saris, Tüchern oder Umhängen nicht an den Stoßstangen verheddern. Als nette Abwechslung ziehen herrenlose Esel durch den Verkehr, die den vermüllten Grünstreifen noch das letzte Grün abzupfen. Manchmal spielt eine heilige Kuh Verkehrspolizist und legt sich mitten auf der Kreuzung nieder.
"Gute Zeit, wenig Verkehr, Madame"
Um halb neun hat Isra, mein fester Taxifahrer, mich zu Hause, in einem relativ zentralen Vorort abgeholt. "Gute Zeit, wenig Verkehr, Madame", lobt er, denn Isra ist grundsätzlich Optimist. Jedenfalls die erste halbe Stunde lang. Ab 9 Uhr geht nichts mehr! Isra, der aus einem Bergdorf im Himalaya stammt, kennt viele Schleichwege. Wir fahren quer durch Bandra, besser als Bollywood bekannt. Im Regen sehen die alten Villen schäbig aus, wer in Mumbai Geld hat, zieht lieber in ein modernes Hochhaus.
Auch Bollywood ist verstopft, also probiert Isra Plan B durch den angrenzenden Slum. "Die müssen hier alle bald weg", sagt Isra und zeigt auf die Frauen, die mit bewundernswerter Würde Wasserkrüge, Wäsche, Obst und Gemüse zwischen den Blech- und Bretterbuden balancieren. "Hier baut die Stadt nämlich bis 2011 eine Umgehungsstraße über die Bucht. Dann sind wir in zwanzig Minuten in der Stadt!" Isra - alter Optimist!
Bis 2011 bin ich längst im Verkehr erstickt. Wir stehen und stehen, so dass ich die geschäftliche Transaktion eines Hühnerverkäufers live miterleben kann. Nach langer Feilscherei packt der Käufer zwanzig Hähnchen kopfüber an den Krallen und verschwindet über die Müllhalden. Es ist halb elf und erst die halbe Wegstrecke, also rund vier Kilometer liegen hinter mir. "Soll ich denn überhaupt noch …?" frage ich per Handy an. "Natürlich kommen Sie! Sie gewöhnen sich bald an unseren kleinen City-Verkehr!" Das meint Isra auch.
Jetzt wird die Menschenmenge am Straßenrand bedrohlich dicht, obwohl alle ganz fröhlich aussehen. Immer mehr Polizisten in Khaki-Uniformen tauchen auf, bewaffnet mit den unsympathischen, sehr an die britische Ex-Kolonialmacht erinnernden Schlagstöcken. Es regnet in Strömen, aber Hunderttausende stehen in Festtagslaune da. So ein Empfang - für mich? - wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Aber dann sehe ich Plakate mit "Willkommen, ihr Weltmeister!" Kein Fußball natürlich.
Mumbai feiert seine Weltmeister
Mumbai feiert das siegreich heimkehrende indische Cricket-Team, dass den Erzfeind Pakistan am Vortag überraschend geschlagen hat. "Ich dachte, die seien heute früh längst durch", meint Isra etwas kleinlaut, "aber wahrscheinlich stecken die noch auf dem Weg vom Flughafen!" Als ich nach knapp drei Stunden bei meinem Frühstückstermin auftauche, ist der Tee noch warm und niemand sauer. Ich kann vom 19. Stock aus die Parade der Cricket-Spieler sehen - und fühle mich selbst ein bisschen als Heldin - ich habe einen spannenden Stau erlebt, ohne ein einziges Mal zu fluchen.