Menschen, die Mut machen Das soziale Gewissen Vietnams

Von Carsten Stormer
In der Adventszeit stellen wir jeden Tag einen Menschen vor, den sein Engagement für andere oder der Umgang mit dem eigenen Schicksal auszeichnet. Heute: Nguyen Thi Oanh. Sie gründete in Vietnam eine Hilfsorganisation, die sich ganz den Schwachen verschrieb. Sie bekam Berufsverbot - aus Angst, sie könne bürgerlich-demokratische Werte verbreiten.

"Die Gesellschaft braucht nicht nur ein gutes Herz, sie braucht auch ein soziales Gewissen", tippt Nguyen Thi Oanh in ihren Computer. Noch vor fünfzig Jahren wäre die Vietnamesin für solche Sätze ins Gefängnis gekommen Der Computer steht in ihrer Wohnung am Stadtrand von Ho Chi Minh Stadt. Die Kolumnistin soll für eine Frauenzeitschrift einen Artikel über Kindesmisshandlungen schreiben. Die Zeitschrift hat einen Text mit positivem Grundton bestellt. Bloß nicht zuviel Kritik, das könnte Ärger mit der Regierung geben. Nguyen Thi Oanh tippt sich an die Stirn: "Wie soll man einen positiven Artikel über Kindesmisshandlung schreiben?"

Menschen, die Mut machen

Überall auf der Welt gibt es Menschen, die anderen helfen und in scheinbar ausweglosen Situationen Mut machen. Menschen, die oft selbst nichts besitzen, wegen ihres sozialen oder politischen Engagements bedroht werden und doch nicht aufgeben. Das Hilfswerk der evangelischen Kirche Deutschlands, "Brot für die Welt", unterstützt diese Menschen. Mit Spenden und mit praktischer Hilfe zur Selbsthilfe. So entstanden unzählige Projekte auf allen Kontinenten. In diesem Jahr feiert die Organisation den 50. Jahrestag ihrer Gründung. stern.de stellt in einer Kooperation mit "Brot für die Welt" 26 Menschen vor, die von der Hilfe aus Deutschland profitiert haben - und nun selber zu Helfern geworden sind: zu Menschen, die Mut machen.

Ein beschwerlicher Weg

Man nennt sie in Vietnam die "Mutter der Sozialarbeit", aber sie kann nicht sagen, wann sie dieses Kind zur Welt gebracht haben soll. War es ihr erstes Projekt für Flüchtlinge aus dem Norden? Oder der Erfolg, Sozialarbeit als universitäre Disziplin verankert zu haben? Nguyen Thi Oanh spricht lieber von einem vierzigjährigen Prozess, der nicht nur von ihr getragen wurde. Es war ein beschwerlicher Weg. Er führte durch drei Kriege und jahrzehntelange Isolation in einem abgeschotteten Land. In den fünfziger Jahren - das Land stand kurz vor der Teilung - kehrte Nguyen Thi Oanh aus den USA zurück, wo sie in Wisconsin Soziologie studiert hatte. Sie war keine Kommunistin, aber sie war inspiriert von den Ideen sozialer Gerechtigkeit von Karl Marx und Ho Chi Minh. Während des Vietnamkriegs mit den USA leitete sie ein Gemeindezentrum in einem Flüchtlingslager in Saigon. 1973 kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit "Brot für die Welt". Sie erhielt Geld, um Flüchtlinge aus dem Norden in den Lagern des Südens zu versorgen.

Stichwort Vietnam

Vietnam ist ein Staat in Südostasien. Er grenzt an China, Laos, Kambodscha und das Südchinesische Meer. Noch immer leidet das Land unter den Folgen des verheerenden Krieges mit den USA, hinzukommen Naturkatastrophen und Misswirtschaft. Dies trifft vor allem die Kinder. Rund 40 Prozent der vietnamesischen Kinder sind unterernährt. Viele Menschen müssen sich mit verschiedenen Hilfsarbeiten durchs Leben schlagen. Vor diesem Hintergrund kommt der Bildung eine besondere Rolle zu. Sie ist ein unverzichtbarer Schritt in eine bessere Zukunft des Landes.

Die Regierung hatte Angst - vor einer Sozialarbeiterin

1990 gründete sie die Hilfsorganisation Center for Social Work and Community Development Research and Consultancy (Zentrum für Sozialarbeit und kommunale Entwicklung, Forschung und Beratung, SDRC), die sich angewandter Sozialarbeit, empirischer Sozialforschung und der Beratung Bedürftiger widmete. Ein Novum im sich damals langsam öffnenden Vietnam. Sozialarbeit, glaubte die Regierung, sei im sozialistischen Vietnam überflüssig. Immer wieder bekam Nguyen Thi Oanh Berufsverbot - aus Angst, sie könne bürgerlich-demokratische Werte verbreiten. Mit Argumenten, Handeln und Hartnäckigkeit schaffte es Nguyen Thi Oanh dennoch, dass 2004 Sozialarbeit in Vietnam als universitäre Disziplin eingeführt wurde.

Wäre dieser Erfolg nicht ein Anlass für die schwerkranke 77-Jährige gewesen, sich zur Ruhe zu setzen? Nguyen Thi Oanh wirft einen Blick auf die Straßen von Vietnam: Überall sieht sie obdachlose Straßenkinder, heroinabhängige Jugendliche, Arbeitslosigkeit, Selbstsucht und Werteverfall. Kann sich da eine wie sie zur Ruhe setzen? "Wenn das nur so einfach wäre", sagt sie. "Ich habe mein Leben lang gekämpft und es gibt noch so viel zu tun."