Ist Sexarbeit Arbeit? Und wenn sie es ist, müsste es dann nicht auch bezahlten Urlaub geben? Mutterschutz? Eine Krankenversicherung?
Fragte man sich Belgien, kam zu dem Ergebnis: Ja. Und goss all das nun in ein Gesetz – zum ersten Mal in der Welt. "Historisch", nennt es Mel Meliciousss. Sie arbeitet als Escort und Pornodarstellerin. Als sie vor rund fünf Jahren mit Mitte 20 als Sexarbeiterin in einem Bordell anfing, gehörte es zu ihren Verpflichtungen, ihre Kunden oral ohne Kondom zu befriedigen. Wenn sie sich weigerte, bekam sie für den Rest des Tages keinen Kunden mehr. Eine Art der Bestrafung. "Es gab absolut keine Regeln", sagt sie. Dabei sei es besonders in der Sexarbeit wichtig, dass es klare Regeln gebe, damit Ausbeutung und Menschenhandel verhindert würden.
Sexarbeit soll behandelt werden wie normale Arbeit
Seit Anfang Dezember gibt es nun solche Regeln. Belgien hat 2022 zwar ähnlich wie Deutschland, Griechenland, die Niederlande und die Türkei Sexarbeit formal entkriminalisiert, das neue Gesetz verleiht Sexarbeiterinnen jedoch erstmals einen gesicherten rechtlichen Arbeitsstatus. Sie müssen Arbeitsverträge haben und erhalten umfassende Rechte. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter werden damit rechtlich wie ganz normale Arbeitnehmer behandelt. Zusätzlich legt das neue Gesetz fest, dass Sexarbeiterinnen das Recht haben, Kunden abzulehnen, Praktiken selbst zu wählen und jederzeit den Akt abzubrechen.
Als die Corona-Pandemie vor vier Jahren die Welt erfasste, standen Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen plötzlich ohne Einkommen dar — für sie gab es keine Lohnfortzahlung, kein Kurzarbeitergeld, keine soziale Absicherung. Belgiens Regierung entschied sich daraufhin, das Strafgesetzbuch zu reformieren und gemeinsam mit Organisationen aus der Branche das neue Gesetz zu erarbeiten, welches im Mai vom Parlament verabschiedet wurde.
"Zustimmung ist das Fundament des neuen Gesetzes", sagt Quentin Deltour. Er arbeitet für "Espace P", eine belgische NGO, die sich für die Rechte von Sexarbeiterinnen einsetzt und maßgeblich am Gesetzgebungsprozess beteiligt war. Gab es vorher viele kleinteilige technische Definitionen, die etwa festlegten, wann eine Vergewaltigung als solche justiziabel ist, sei es mit dem neuen Gesetz nun klar und einfach geregelt: "Wenn du dein Einverständnis nicht gibst, dann ist es Vergewaltigung. Punkt", sagt Deltour.
Ein Prozess des Umdenkens in der Regierung
"Espace P" schätzt, dass es rund 10.000 bis 15.000 Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen in Belgien gibt. Genaue Zahlen seien schwer zu ermitteln in diesem Berufszweig, der eben zurzeit noch häufig im – auch rechtlichen – Dunkel stattfindet. Von dem neuen Gesetz würden allerdings nur etwa 15 Prozent der Sexarbeiterinnen profitieren, glaubt Deltour. Nämlich diejenigen, die als fest Angestellte arbeiten möchten. Das klinge zwar nach nicht viel, aber das Gesetz habe grundlegend verändert, wie die Regierung über Sexarbeit nachdenkt. Und das sei ein Erfolg für sich. "Mit dem Gesetz haben wir eine Tür geöffnet", sagt Deltour, "und mit dieser offenen Tür kämpfen wir weiter für die Rechte aller Sexarbeiterinnen."
Ein wichtiger Bestandteil sind neben den Rechten, die Sexarbeiterinnen jetzt geltend machen können, auch die Bedingungen, unter denen sie angestellt werden können. Vor der Gesetzesänderung gab es rechtlich keine Zuhälter. Sexarbeiterinnen waren nicht als solche angestellt, sondern wenn überhaupt als Hostessen oder Kellnerinnen. Ein etwaiger Vertrag zwischen zwei Parteien war demnach sowieso weitestgehend hinfällig, denn eine Sexarbeiterin konnte rechtlich nicht gegen ihren Zuhälter klagen — schlicht, weil es dieses Arbeitsverhältnis nicht im belgischen Recht gab.
Arbeitgeber können kontrolliert werden
Das neue Gesetz regelt auch die Pflichten für die Arbeitgeber. Es braucht künftig eine Genehmigung, um legal Sexarbeit anzubieten, die man nur unter bestimmten Bedingungen bekommt. Die Arbeitgeber müssen nachweisen, dass sie noch nie im Gefängnis waren und nicht mit Menschenhandel oder Gewalt in Berührung gekommen sind. Arbeitgeber müssen künftig Kondome und saubere Bettwäsche bereitstellen. Zudem muss in jedem Zimmer eines Bordells ein Notfallknopf für die Beschäftigten angebracht werden für den Fall, dass sich ein Freier übergriffig verhält. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie etwa "Espace P" muss künftig Zutritt zu Etablissements gewährt werden, um die Einhaltung der Regeln zu kontrollieren.
Für Mel Meliciousss und viele ihrer Kollegen ist das neue Gesetz ein Schritt in ein neues Leben. Und mehr noch: "Es gibt Selbstvertrauen, um für sich einzustehen", sagt Meliciousss. Arbeitgeber, die sich nicht an die Regeln halten, könnten in Zukunft rechtlich belangt und in der Branche gecancelt werden. "Das garantiert uns sowohl Schutz als auch Freiheiten", sagt Meliciousss.
Überall dort, wo über die Rechte von weiblichen Körpern verhandelt wird, gibt es üblicherweise auch Kritik daran. Als der Gesetzentwurf 2023 veröffentlicht wurde, nannte ihn der Rat der frankophonen Frauen Belgiens "katastrophal". "Die Annahme, dass es Prostitution gibt und dass wir die Arbeiterinnen schützen müssen, bedeutet, diese sexistische Gewalt zu akzeptieren und sie nicht zu bekämpfen", sagte die Leiterin der feministischen Organisation gegenüber der belgischen Tageszeitung "Le Soir".
Sowohl "Espace P" als auch Mel Meliciousss widersprechen. Natürlich gebe es auch Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, die gegen das Gesetz seien, aber die Mehrheit, mit denen die NGO Kontakt habe, sei glücklich mit dem Ergebnis, sagt Deltour. "Ich mache den Job nicht, weil ich dazu gezwungen werde", sagt Meliciousss, "sondern, weil ich ihn gerne mache."