Tschechien Die vertauschten Kinder

  • von Tilman Müller
Elf Monate lebten zwei Mädchen in Tschechien bei den falschen Eltern. Die Wahrheit stürzte beide Familien in ein Chaos der Gefühle. Nun dringen die Behörden auf ihren Rücktausch.

Es war eine leichte Geburt. Um 3.55 Uhr in der Früh kam das kleine Mädchen auf die Welt. Noch im Kreißsaal wurde es von der Mutter gestillt. Mehrere Minuten lang. Der Vater stand übernächtigt daneben, begleitete das blutverschmierte Baby kurz darauf zum Waschen und fotografierte es mit seinem Handy - ein zierliches Mädchen mit dichtem Haar, Gewicht 2650 Gramm. Als die beiden wiederkamen, war die junge Familie noch einmal für etwa 15 Minuten glücklich vereint. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass Jaroslava und Jan Cermák ihr Kind im Arm halten.

Gegen 4.20 Uhr an diesem 9. Dezember vergangenen Jahres kommt die Kleine auf die Säuglingsstation. Ihre Eltern ruhen sich in einem Nebenraum des Kreißsaals aus, oben im fünften Stock der Klinik von Trebic, einer Provinzstadt im Südosten Tschechiens. Gegen 7 Uhr, kurz nach Schichtwechsel des Personals, wird Jaroslava Cermáková im Rollbett auf die dritte Etage verlegt.

Im Fahrstuhl nach unten ist noch ein zweites Bett mit einer anderen Frau, die ebenfalls gerade ihr erstes Kind geboren hat. Die Mütter heißen beide mit Vornamen Jaroslava, sind beide 25 Jahre alt und haben beide einem dunkelhaarigen Mädchen das Leben geschenkt - das Töchterchen der zweiten Jaroslava war nur 18 Minuten später zur Welt gekommen. Im Lift treffen sich die Blicke der beiden Frauen nur kurz. Sie kennen sich nicht, leben 40 Kilometer voneinander entfernt in ärmlichen Dörfern. Jaroslava Cermáková, von Beruf Sekretärin, wird von ihren Freunden "Jarca" genannt. Jaroslava Trojanová, Rufname "Jája", jobbte am Band einer Verpackungsfirma. Jarca und Jája.

Monatelang betrachteten die Mütter ein falsches Kind als ihres

Heute kennt in Tschechien fast jeder die beiden Frauen. Ein Bild von Jája kam sogar auf den Titel des Prager Magazins "Instinkt". Sie trägt ein knappes T-Shirt, im rechten Arm hält sie Veronika, im linken Nikola. Veronika ist ihre leibliche, Nikola ihre "gefühlte" Tochter. Die Schlagzeile: "Vertauschte Kinder". Denn bei Jarca ist es genau andersherum: Sie ist die biologische Mutter von Nikola, fühlt sich aber als Mutter von Veronika. Monatelang haben die beiden das Baby der jeweils anderen als ihr eigenes betrachtet und geliebt.

An jenem Dezembermorgen hatte eine Schwester den jungen Müttern Jarca und Jája kurz nach 7 Uhr ihre Neugeborenen übergeben. Beide Wöchnerinnen lagen in verschiedenen Zimmern des 762-Betten-Hospitals. "Merkwürdig war, dass mein Kind plötzlich nichts mehr trinken wollte", sagt Jarca, "obwohl es doch kurz vorher im Kreißsaal so gut geklappt hatte." Jarca und ihr Mann Jan, 26, sitzen bedrückt in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung. Überall Spielsachen, der Fernseher läuft, das Mobiliar stammt aus alten Ostblockzeiten. Erst nach ein paar Stunden, erzählt Jarca, habe sich das Baby damals wieder anlegen lassen. Bei Jája war es ähnlich. "Sofort nach der Entbindung habe ich fünf Minuten lang gestillt", sagt sie, "doch danach lief erst mal gar nichts. Es hat ungewöhnlich lange gedauert, bis bei der Kleinen endlich das Gewicht anstieg." Jája lebt heute im Haus der Eltern ihres Lebenspartners Libor Broza. Der 29-jährige Fernfahrer verpasste die Geburt. Als er am Mittag in die Klinik kam, waren die Neugeborenen längst vertauscht. Heute geht man davon aus, dass es die Nachlässigkeit einer Krankenschwester war, die das Drama auslöste. Sie hatte damals Frühdienst und wurde inzwischen fristlos entlassen.

Libor fiel schon damals auf, dass mit dem Gewicht des Babys etwas nicht stimmen konnte. Auf der Geburtskarte hieß es 2650 Gramm, doch laut Ultraschalluntersuchung unmittelbar vor der Entbindung sollten es 3500 Gramm sein. Er habe eine Schwester auf den gravierenden Unterschied angesprochen, sagt Libor, doch die "hat nur von einem Fehler beim Wiegen gefaselt". Als er daraufhin gefragt habe, ob das Kind vielleicht verwechselt wurde, sei die Antwort gekommen: "Ausgeschlossen, es ist mit Sicherheit Ihr Baby."

Fünf Tage nach der Geburt brachten die beiden Mütter fremde Kinder nach Hause, die sie heiß liebten. Die Eltern sangen ihnen Lieder vor, sie spielten mit ihnen, sorgten sich um ihre Gesundheit, wiegten sie allabendlich in den Schlaf und waren glücklich wie vielleicht nie zuvor in ihrem Leben.

"Warum haben wir die verdammte Wahrheit nicht schon in der Klinik herausgekriegt?"

Elf Monate später - Veronika kann inzwischen fast laufen, Nikola trägt braune Zöpfchen und kleine Ohrringe - sind vier junge Menschen in ihren Gefühlen tief verstört und völlig verzweifelt. Libor Broza hockt niedergeschlagen mit ausgestreckten Beinen auf dem Linoleumboden in der Küche seiner Eltern, den Rücken an die Anrichte gepresst. "Warum haben wir die verdammte Wahrheit nicht schon in der Klinik herausgekriegt?", fragt er und sagt dann bitter: "Mit solch einem Horror will sich doch keiner auseinandersetzen." Unruhig beobachtet er, wie seine leibliche Tochter Veronika, die heute wieder zu Besuch ist, angestrengt Gehversuche macht. Sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, beide haben die gleichen schwarzbraunen Augen.

Die gemütliche Küche mit den Muttergottesfiguren über der Tür ist in den letzten Wochen zu einer Art Begegnungsstätte für die Eltern und ihre vertauschten Kinder geworden. Von einem Psychodrama ist wenig zu spüren, wenn die Kleinen nebenan vor dem Goldfischaquarium auf blauem Teppich umherkrabbeln. "Ich hab beide lieb", sagt Jája, gibt aber zu, dass sie mit Veronika "noch nicht so gut kann." Wickeln etwa mag sie ihre leibliche Tochter nicht, das muss Jarca tun. "Wenn die Kleinen weinen oder nachts unruhig werden", sagt Jarca am Küchentisch, "sind sie noch immer bei der vertrauten Mutter am besten aufgehoben." Fast scheint es, als hätten die Eltern die verwirrende Situation ganz gut im Griff. Doch spätestens wenn sie wieder mal zum Rauchen vor die Tür stürmen, zeigt sich, wie angespannt sie doch sind. Alle rauchen Kette, nur die wieder schwangere Jarca nicht, sie bleibt in der Küche.

In dieser Küche nahm auch die Aufklärung des Dramas ihren Anfang. Von Beginn an hatte Libors Mutter Anna darauf beharrt, so wie die kleine Nikola sehe niemand in der Verwandtschaft aus. Immer wieder holte sie ihre Fotosammlung heraus, die bis in die Anfänge des vorigen Jahrhunderts zurückreicht, immer wieder verglich sie die Kinderbilder, zeigte auf typische Gesichtszüge der nahen Verwandten und kam stets zu dem gleichen Schluss: "Libor, das ist nicht deine Brut." An ihrem Geburtstag am 13. Februar fing die Großmutter wieder mit der Geschichte an. Und nach einer Flasche Whiskey drängte auch Libors Schwager: "Mach einen DNA-Test, übers Internet, ohne dass Jája etwas erfährt. Geht's gut aus, bist du aus dem Schneider, wenn nicht, solltest du das wissen." Das Ergebnis der eingeschickten Probe kam aus den USA, an die Adresse des Schwagers. Nikola ist nicht Libors Tochter. Er stellte Jája zur Rede, und obwohl sie schwor, es sei kein anderer Mann im Spiel gewesen, beantragte Libor bei Gericht die Annullierung seiner Vaterschaft. Dort wurde der Test aus den USA jedoch nicht anerkannt; beide Partner, hieß es, müssten sich in Tschechien einer Untersuchung stellen.

Die Eltern sind verzweifelt, die Kinder verwirrt

Am 12. September ist Libor mit seinem Brummi auf der Autobahn unterwegs, da klingelt sein Handy. "Ich bin nicht die Mutter", schluchzt Jája. Libor hält sofort auf dem Seitenstreifen an. "Ich habe geheult wie ein kleines Kind", erzählt er, "Jája und ich sind seit fünf Jahren zusammen. Hätte ein anderer Mann das Kind gezeugt, wäre ich darüber hinweggekommen, aber nach dieser Nachricht habe ich total die Kontrolle verloren." Kurz darauf wird er krankgeschrieben, er fühlt sich für die Fernfahrerei nicht mehr stabil genug.

Jája trifft es noch härter. Sie kann nicht mehr stillen und fängt prompt wieder mit dem Rauchen an. Ihre Nervosität überträgt sich auf Nikola. Nachts schläft sie schlecht, tagsüber will sie ständig kuscheln. Jája und Libor rennen abwechselnd vor die Tür, zum Rauchen, sie qualmen mehr denn je. Und immer wieder fragen sie sich, wo ihr "richtiges" Kind sein könnte. Es ist in Pribyslavice, bei den Cermáks, die nichts ahnen von der Katastrophe. Bis eines Morgens ein Anruf vom Jugendamt kommt: "Können wir vorbeikommen? Wir müssen etwas klären." Ermittlungen hatten ergeben, dass an jenem 9. Dezember vier Mädchen in der Klinik geboren worden waren und die Tochter der Cermáks vermutlich das zweite vertauschte Kind war. Die Ergebnisse des Gentests bestäti- gen das, und wenig später begegnen sich die Unglückspaare mit ihren Kindern zum ersten Mal.

"Am Anfang haben wir uns noch gesiezt", erzählt Libor, "zurzeit verbringen wir schon drei Tage in der Woche zusammen, meistens im Haus meiner Eltern, da lernen wir uns langsam besser kennen und spielen viel mit den Kindern." Denn irgendwann müssen Nikola und Veronika sozusagen zurückgetauscht werden. In Tschechien haben Kinder das gesetzlich verbriefte Recht, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Erfahrungen, wie solch ein "Rücktausch" am besten zu bewältigen ist, gibt es kaum. Wohl ist die Urangst, bei der Geburt vertauscht worden zu sein, immer wieder mal Thema von Romanen, Filmen oder Fantasien. Doch Realität wird dieser Albtraum sehr selten. In Deutschland sind durch Erkennungsbändchen oder Speicherchips, die Neugeborenen sofort nach dem ersten Schrei angelegt werden, Verwechslungen so gut wie unmöglich.

Namensschilder bekamen Veronika und Nikola nach ihrer Geburt in Trebic offenbar nicht. Klinikdirektor Petr Mayer demonstrierte zwar vor der Lokalpresse, wie die Namen der Babys mit einem Spezialstift auf den Unterarm geschrieben werden, doch auf den Fotos, die Jan Cermák Minuten nach der Geburt von seiner Tochter machte, ist nur eine runde blaue Marke mit der Nummer 94 zu sehen. Richtig aufgeklärt ist der Skandal bis heute nicht: Die medizinischen Unterlagen über die Geburt der beiden Mädchen sind verschwunden. Hinter den Kulissen ringen nun die Anwälte der Klinik und der beiden Elternpaare um eine angemessene Entschädigung. In Tschechien bekamen Opfer von Kunstfehlern bisher maximal 250.000 Kronen (9260 Euro). "Was mit uns geschehen ist, lässt sich mit keinem Geld der Welt kompensieren", erklärt Libor.

"Wir brauchen jetzt erst mal mehr Zeit"

Im Moment macht er sich vor allem Sorgen um Jája. Seine Freundin könnte "zusammenklappen", fürchtet er, wenn sie Nikola zu schnell weggeben muss. Als Termin stand zunächst der erste Geburtstag der Mädchen am 9. Dezember im Raum, später dann Weihnachten. "Alles zu früh", sagt Libor, inzwischen der Sprecher die- ser langsam zusammenwachsenden Notgemeinschaft. Deren Hauptproblem ist im Moment die therapeutische Betreuung. Der erste Versuch mit einer Psychologin, die von Anfang an die Treffen der beiden Paare begleitete, scheiterte, es kam zum Streit und zur Trennung von der Therapeutin. "Die wollte, dass wir ein symbolisches Begräbnis veranstalten und im Garten Spielsachen verbuddeln, bevor wir Nikola den Cermáks übergeben", sagt Jája erbost. Jarca, Nikolas leibliche Mutter, sagt mit einem süffisanten Lächeln: "Wir haben stattdessen die Psychologin begraben. Wir brauchen jetzt erst mal mehr Zeit." Jedes abrupte Vorgehen sei wenig hilfreich, sagt der deutsche Kindertherapeut Peter Lehndorfer. Gerade im ersten Lebensjahr gehe es um die Entwicklung einer möglichst starken Bindung, in der Regel zur Mutter. Und je gefestigter diese Bindung, desto einfacher sei es für ein Kind, sich in neue Lebenszusammenhänge einzufinden. Frühestens dann sei eine Rückgabe vertauschter Kinder sinnvoll. "Ohne Halt und Beistand von Betreuern und Freunden", sagt Lehndorfer, "ist das sowieso kaum möglich." Vielleicht sollten sich die Betroffenen "ein bisschen wie eine Großfamilie zusammentun".

Weihnachten wollen die jungen Leute gemeinsam feiern. Bis dahin soll auch der Anbau am Haus der Brozas fertig sein, an dem Libor mit Handwerkern aus dem Dorf arbeitet, um Platz zu schaffen, damit alle zusammen sein können. Die Väter tun sich leichter mit der Idee der Rückgabe als die Mütter. Aber auch Jarca beginnt sich mit dem Gedanken anzufreunden. "Ich gebe Veronika jetzt besonders viel Liebe", sagt sie, "weil ich weiß, dass ich sie bald verlieren kann." Nur Jája will sich mit dem bevorstehenden Bruch nicht abfinden. In ein paar Jahren vielleicht? Sie schweigt, Panik im Blick, dann ein Schulterzucken. Und schon rennt sie aus der Küche. Ihre Nikola schreit nebenan nach ihr.

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