Das Bemerkenswerte an der Intensität der deutschen Diskussion über die Brandmauer ist, dass ihr im Vergleich zu den drei anderen Mauern, die uns genauso einengen, eine fast exklusive Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Die Vermutung liegt daher nahe, dass der strikte Fokus auf die Brandmauer insbesondere auch dem Zweck dient, die Existenz der drei anderen Mauern – die Politik- und Verwaltungsmauer, die Sozialdemokratisierungsmauer und die Verbändemauer – zu übertünchen. Dabei sind diese drei wahrscheinlich eine größere Hürde als die Brandmauer, um die entscheidende Herausforderung unseres Landes – die Wiederherstellung soliden wirtschaftlichen Wachstums – zu meistern.
Auch deshalb würden wohl viele Bürger aller Einkommensstufen aktuell einem Diktum Winston Churchills von vor über einem Jahrhundert zustimmen, demzufolge "wir für nichts anderes organisiert sind als die Parteipolitik".
Die Politik- und Verwaltungsmauer
Die erste, landläufig übersehene Mauer ist die Politik- und Verwaltungsmauer. Sie erfasst die Abgehobenheit, wenn nicht Selbstherrlichkeit von Politik und Verwaltung. Die Steuerzahler haben zunehmend den Eindruck, dass dem Gebaren von Politik und Verwaltung ein grundlegendes Missverständnis zugrunde liegt.
Stephan-Götz Richter
Stephan-Götz Richter ist Chefredakteur von "The Globalist", einem Online-Magazin für globale Ökonomie, Politik und Kultur sowie Direktor des Global Ideas Centers, Berlin.
Denn der Begriff "Daseinsfürsorge der öffentlichen Hand" scheint sich nicht länger auf das zu beziehen, was Politik und Verwaltung auftragsgemäß für die Bürger umsetzen sollen. Vielmehr wird er inzwischen vorrangig dahingehend verstanden, dass es darum geht, was Politik und Verwaltung für sich selbst aus dem Pool der öffentlichen Finanzen extrahieren können. Dies gilt zum Beispiel für ausufernde Versorgungsansprüche, ständige Personalvermehrung, leistungsunabhängig erfolgende, gehaltsmaximierende Dienststufenanhebungen, die effektive Folgenlosigkeit von Disziplinarverstößen sowie absurd hohe Krankenstände.
Die wohl bedeutendste Mauer
Die zweite, eher in unserem kollektiven Unbewussten schlummernde Mauer, ist die Sozialdemokratisierungsmauer. Sie ist die wohl bedeutendste Mauer der deutschen Gegenwart. Ihr zufolge ist eine ständige Erweiterung der sozialpolitischen Versorgungsfunktionen vorrangiges Ziel der Politik und des Staatswesens.
Das besonders Pikante an dieser Mauer ist, von wie wenigen der im Bundestag vertretenen Parteien sie als Problem betrachtet wird. Selbst in der Union gilt das ja nur in Teilen (siehe die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft innerhalb der CDU, das S in der CSU sowie die rücksichtslose Klientelpolitik von Markus Söder).
Tatsache ist, dass von den sechs im Bundestag vertretenen Parteien nur zwei (je zur Hälfte) Wirtschaftswachstum nicht als etwas ansehen, dass uns Deutschen einfach zusteht, so als sei es automatisch wie von Gott gegeben. Das besagt alles, was man wissen muss, um zu sehen, wie schwer es sein wird, Deutschland wirtschaftlich wie politisch wieder auf Kurs zu bringen.
Verwirrung im politischen Berlin
Dass der Wirtschaftsliberalismus politisch auf einer derartigen, bisher nie da gewesenen Sparflamme operiert, ist für unser Land potenziell fatal. Denn unser wirtschaftlicher und damit auch gesellschaftlicher Wohlstand beruht ja in erheblichem Maß auf dem industriellen Mittelstand, der Innovation und Exportorientierung. Einer so strukturierten Volkswirtschaft muss es eigentlich permanent um die Aufrechterhaltung der Grundlagen ihrer Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit gehen.
Wie groß die diesbezügliche Verwirrung im politischen Berlin ist, kann man daran erkennen, dass dort zwar eifrig über das Für und Wider eines Misstrauensvotums debattiert wird. Zugleich wird nicht erkannt, dass immer mehr in Deutschland ansässige Unternehmen mit ihren Investitionsentscheidungen ein klares Misstrauensvotum gegen den Standort aussprechen – mit entsprechenden Konsequenzen für das Steueraufkommen und die Beschäftigungslage.
Dass zu allem Überfluss der fiskalpolitische Verantwortungssinn – trotz dauernd anderslautender Beteuerungen von Friedrich Merz – inzwischen zu einer Art außerparlamentarischer Spezialfunktion von Institutionen wie dem Bundesrechnungshof, dem Bund der Steuerzahler und Wirtschaftsforschungsinstituten verkommen ist, ist längst nicht nur ironisch zu verstehen. Es wirkt wie ein Brandbeschleuniger.
Dabei ist das eigentlich Paradoxe an der immer weiter ausufernden Sozialdemokratisierung unseres Landes, dass alle Parteien links der Mitte, die den Sozialstaat ja allesamt noch weiter ausbauen wollen, eigentlich das größte Interesse daran haben müssten, die Grundlagen für solides Wirtschaftswachstum in unserem Land zu legen. Stattdessen ersticken sie die Wirtschaft im Bürokratismus.
Das politische Scheitern von Friedrich Merz
Das bringt uns zur vierten Mauer Deutschlands, der Verbändemauer. In Deutschland gibt es für alles einen Verband und die meisten Verbände sind vom Wesen her auf die Wahrung des Status quo ausgerichtet, in dem sie sich gemeinhin bequem eingerichtet haben. Es gibt kaum einen Wirtschaftsverband, dem sich die Unionsparteien nicht eifrig andienen. In der Summe resultiert das in einem nahezu kompletten reformerischen Stillstand – also das genaue Gegenteil dessen, was Deutschland braucht.
Angesichts der vier Mauern, die das heutige Deutschland prägen, wird ein Weiteres deutlich: Das politische Scheitern von Friedrich Merz ist gar nicht so sehr auf seine mangelnde Regierungserfahrung zurückzuführen. Vielmehr markiert sein latentes Scheitern – angesichts der fortlaufenden Übertünchung der Politik- und Verwaltungsmauer, der Sozialdemokratisierungsmauer und der Verbändemauer – unser aller kollektives Scheitern.
Bei allem berechtigten Warnen vor der moskauhörigen AfD erklären die drei anderen Mauern sehr viel eindringlicher und überzeugender, warum unser Land seit 2019 an der Schallmauer des realen Nullwachstums herumkrebst und daran zu zerbrechen droht. Denn alles permanente Beschwören des sozialen Zusammenhalts ist ohne wirtschaftliches Wachstum nur Schall und Rauch.
Warum gerade diese fundamentale Einsicht im Deutschen Bundestag nicht mehr Resonanz findet, bleibt das magische Geheimnis aller dort vertretenen Parteien.