Von der russischen Grenze bis zu den Außenbezirken von Charkiw sind es nur etwa 25 Kilometer. Beim Überfall 2022 erreichten russische Einheiten deshalb nach wenigen Tagen die zweitgrößte ukrainische Stadt, wurden aber zurückgeschlagen. Die neuerliche Offensive war für die Ukraine keine Überraschung. Seit Monaten griff Russland die Stellungen der Ukrainer zwischen Charkiw und der Grenze an und zerstörte mit Raketenangriffen einen Großteil der kritischen Infrastruktur in der Stadt selbst.
Ein unstrittiger Faktor für das schnelle Vorrücken der Russen ist der allgemeine Mangel an Waffen und Soldaten: Die ukrainischen Reserven an Munition und Geschützen sind dünn, weil die Lieferungen aus den USA über ein halbes Jahr ausblieben. An Soldaten fehlt es, weil die Ukraine lange über ein neues Mobilisierungsgesetz stritt. Die nun eingezogenen Soldaten müssen erst noch ausgebildet und ausgestattet werden.
Der Mangel an Truppen führt dazu, dass der ukrainische Generalstab eine Strategie der "Feuerwehreinsätze" verfolgen muss, wie die Militäranalysten Michael Kofman und Rob Lee in der "New York Times" schreiben: Kampffähige Truppen werden schnell an kritische Frontabschnitte verlegt. Dass Russland die Front nun um 200 Kilometer verlängert hat, macht die Lage für die Ukraine noch kritischer.
Ein großes Problem in Charkiw: die Gleitbomben
Ein strategischer Nachteil ist, dass die Partner der Ukraine nicht erlauben, westliche Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen. Dem Aufmarsch der Russen mussten die Ukrainer so weitgehend tatenlos zusehen. Zudem finden sie bislang keine effektiven Mittel gegen die russischen Gleitbomben.
Offenbar wurden auch die Verteidigungsanlagen nicht so massiv ausgebaut wie versprochen: Allein 2024 hatte die Regierung dafür umgerechnet etwa 700 Millionen Euro bereitgestellt. Der Gouverneur des Gebiets erklärte, der Grund für den Abbruch der Bauarbeiten sei gewesen, dass durch russischen Beschuss Bauarbeiter verletzt und Maschinen zerstört worden seien.
Die "Washington Post" berichtet zudem, dass es Russland kurz vor dem Angriff gelungen sei, mit Störmaßnahmen die Drohnen der Ukrainer auszuschalten, mit denen diese die Bewegungen der russischen Truppen verfolgen konnten.