Bei all den furchtbaren Bildern, die uns täglich aus dem Ukraine-Krieg erreichen, ist eines in den vergangenen zwei Wochen fast untergegangen: Wir befinden uns noch immer in einer anderen weltweiten Krise – der Corona-Pandemie. Und auch wenn es in den vergangenen Tagen medial ziemlich abgemeldet war – das Virus grassiert wie nie zuvor. Mit einer Inzidenz von 1585,4 haben wir an diesem Dienstag einen Negativrekord aufgestellt. In der vergangenen Woche beliefen sich die täglichen Neuinfektionen auf bis zu 262.000. Und das nur wenige Tage vor dem "Freedom Day light", um mal in der Analogie der Lockdowns zu bleiben.
Die Kritik an den Corona-Lockerungen wird lauter
Am 20. März sollen alle tiefergehenden Schutzmaßnahmen fallen. Und doch ist irgendetwas komisch in diesen Tagen: Die Stimmung dreht sich offenbar, Kritik an den Lockerungen wird lauter. Während für viele Leute die Öffnungen vor ein paar Wochen gar nicht schnell genug kommen konnten und das Hobby-Virologentum die Pandemie bereits für beendet erklärte, weil "es wird ja auch wärmer und mit der Sonne und so, das war letztes Jahr auch so...", wissen die selben Leute jetzt gar nicht mehr wohin mit ihrer Empörung.
260.000 Neuinfektionen an einem Tag! Lockerungen! Unverantwortlich! Wer denkt an die Kinder? Das ist ja Durchseuchung! Ja, das ist es. Und noch vor ein paar Wochen hielten das Viele auch für genau den richtigen Plan. Man müsse ja lernen mit dem Virus zu leben, hörte man dann oft. Was soll man auch machen? Mehr als drei Mal impfen geht ja schließlich nicht.
Was also hat sich in den wenigen Wochen geändert? Warum klammern sich einige Menschen plötzlich an die FFP2-Maske wie ein Kind an das Bein seiner Mutter, wenn es hört, dass es wieder eine Präsenzpflicht in der Schule gibt? Karl Lauterbach brachte es sehr gut auf den Punkt: "Die Lage ist derzeit objektiv schlechter als die Stimmung" – für den gemeinen Deutschen eigentlich verkehrte Welt. Trotzdem hat man das Gefühl, die Einschläge kommen noch mal ein bisschen näher.
Kaum mehr ein Tag, an dem die Corona-Warn-App nicht voller Sorge verkündet, man hätte eine Risikobegegnung gehabt. Immer wieder der Satz, "den" oder "die" habe es auch erwischt. Long Covid – ja, da kennt man auch mittlerweile ein paar, die nicht mehr so einfach die Treppe hinauf kommen, oder sich kaum noch konzentrieren können.
Lange war es wunderbar einfach, nach Freiheit zu schreien
Lange war es so wunderbar einfach nach Freiheit zu schreien. Tausche meine Einschränkung gegen fremdes Leid – ein Bombengeschäft. Die Intensivstationen, auf denen noch heute 200 bis 300 Menschen täglich an oder mit Corona sterben, waren weit weg.
Doch plötzlich ist auch das eigene Umfeld massiv betroffen. Plötzlich geht es ums uns persönlich. Und plötzlich bekommen wir dann doch ein wenig Panik.
Wie ein Schulkind, das wochenlang voller Übermut erklärt, die Mathe-Arbeit würde ja kein Problem werden, nur um am Prüfungstag mit Panik und schweißnassen Händen auf den Lehrer einzureden, dass es unfair sei, jetzt plötzlich eine Arbeit zu schreiben, weil man nicht gelernt habe.
Grundsätzlich kann man gegen eine Meinungsänderung ja gar nichts haben. Zumindest das haben wir sicher aus der Pandemie gelernt: Wir bewerten die Lage immer wieder neu und kommen eventuell auch zu neuen Entschlüssen.
Die plötzliche Empörung besteht aus Egoismus
Doch die plötzliche Empörung ist bei so vielen kein Zeichen der Solidarität mit vulnerablen Gruppen. Es ist kein Versuch, die Krankenhäuser zu entlasten oder diese Pandemie endlich in den Griff zu bekommen. Die plötzliche Empörung ist ein Ausdruck des Eigennutzes, den wir in Gefahr sehen. Sie besteht aus Egoismus, weil viele merken, dass diese abstrakten Zahlen, die seit zwei Jahren über uns hängen wie eine schwarze Wolke, sie eben doch betreffen. Kranken- und Altenpfleger, Ärzte und Mediziner können ein Lied davon singen – nur wollten viele das nicht mehr hören.
Die Inzidenzen sind seit Wochen schon absurd hoch. Interessiert hat das lange kaum jemanden mehr. Wichtig war nur, dass die Lockerungen kommen. Jetzt, wo plötzlich jeder einen Bekannten, Verwandten oder Arbeitskollegen hat, der gerade in Quarantäne ist oder sich frisch freigetestet hat, dämmert es, dass Corona immer noch da ist und das Infektionsrisiko so hoch wie nie.
Erst jetzt, wo viele merken, dass diese Pandemie eben noch nicht vorbei ist, und sie sich jederzeit selbst anstecken können, wissen es plötzlich viele besser. Es ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die seit zwei Jahren vor den Folgen des Virus und den Auswirkungen auf das Gesundheitssystem warnen.