Es ist ihr Hang zur Physik, zur Technik, zur Kontrolle, der diese Frau auszumachen scheint, der Glaube an eine wie auch immer geartete rationale Lösung für politische Probleme. Und so verwundert es auch nicht, dass Merkel einen Vergleich aus der Welt der Technik wählt, um zu umschreiben, was sie, was die große Koalition, vorhat mit Deutschland.
"Viele werden sagen: Diese Koalition geht viele kleine Schritte und nicht den einen großen", sagt sie fast am Ende ihrer 90-minütigen Regierungserklärung. "Und ich erwidere: Genau so machen wir es. Denn das ist ein moderner Ansatz." Und dann, wie zum Beweis der Leistungsfähigkeit dieser Technik der kleine Schritte, sagt sie: "So hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass die Vernetzung vieler kleiner Computer sehr viel leistungsfähiger ist als ein Großrechner. Letztlich beruht das ganze Internet auf dem Gedanken."
Müntefering verzichtet auf das Knuffen
Es sind nicht viele kleine Computer, die Merkel zusammegeschlossen hat. Genauer gesagt sind es nur zwei große, dicke Rechner: Union und SPD. Dass das Wartungspersonal alles unternimmt, um einen Kurzschluss zu verhindern, merkt man der Merkelschen Rede an.
Nein, diese Erklärung, diese 90 Minuten, das ist keine Aufbruch-Rede, ist kein Hauruck-Appell, der die Abgeordneten von Union und SPD von den Stühlen reißt. Es gibt keine stehenden Ovationen, als die schwarz gewandete Kanzlerin endet. Es gibt lediglich pflichtbewussten Beifall. Selbst Franz Müntefering, der Vizekanzler und Arbeitsminister, kann sich zu keiner emotionalen Geste durchringen.
Als sie zur Regierungsbank zurückkehrt, schüttelt er Merkel nicht die Hand, er knufft sie nicht in Schröderscher Manier, er lacht nicht einmal. Union und SPD, das wird auch an solchen Reaktionen klar, sind keine Liebhaber, nicht einmal Verliebte. Große Rechner eben, die irgendwie kompatibel gemacht werden müssen. Internet auf Deutsch.
"Es ist nicht die Zeit der großen Prosa"
Und dennoch ist es eine Rede, die Merkel entspricht: Durchdacht, wohl gewogen - und ein bisschen langweilig. "Nun beginnt die Erledigung der Aufgaben, für die wir gewählt worden sind", sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert zu Beginn der Sitzung. Merkel referiert die Aufgabenliste, von der Rente über den Arbeitsmarkt bis hin zur Außenpolitik.
Die Ansprache soll, so die Botschaft, sein wie diese neue Regierung. Nichts soll versprochen werden, was nicht einlösbar wäre. "Das war eine grundsolide Rede", kommentiert SPD-Generalsekretär Hubertus Heil. "Die Bundeskanzlerin hat den Koalitionsvertrag auch in der Breite klar gemacht. Sie hat gezeigt, dass wir uns an die Arbeit machen wollen, es ist nicht die Zeit der großen Prosa. Sondern sie hat klar gemacht, dass das eine Koalition der Verantwortung ist." Das ist eine Regierung, die ehrliches und solides Handwerk verspricht, soll das heißen, keine großen Entwürfe. Es ist eine Regierung, die auf eherne Glaubwürdigkeit setzt, nicht auf die sensationelle Inszenierung.
"Lasst uns mehr Freiheit wagen"
Auf ein großes Leitmotiv verzichtet Merkel in dieser Rede. Auf ein einendes Motto lässt sich der Text nicht herunterbrechen, auf einen durchdringenden Appell etwa. Nur das Prinzip der Freiheit, das hält Merkel wiederholt hoch - in ihrer Einleitung etwa, als sie davon spricht, die Freiheit nach dem Mauerfall sei die größte Überraschung ihres Lebens gewesen. "Wenn sie schon einmal im Leben so positiv überrascht worden sind, dann halten sie vieles für möglich", sagt sie. Die Koalition sei in diesem Geiste zu verstehen. Etwas später zitierte sie Willy Brandts Mehr-Demokratie-Wagen-Rede. "Gestatten Sie mir, heute diesen Satz zu ergänzen und uns zuzurufen: 'Lasst uns mehr Freiheit wagen'." Bemüht klingt das. Ein wenig aufgesetzt.

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Merkels Rede ist ein Kind der politischen Realitäten. Nur hin und wieder blitzt die Sehnsucht der Kanzlerin nach einem liberaleren Programm durch, nach den radikaleren Visionen des Leipziger Parteitags der CDU. Aber Merkel weiß, dass sie sich zügeln muss, dass sie die Sozialdemokraten nicht provozieren darf - Müntefering nicht, der zur Rechten des Rednerpults sitzt und auch SPD-Chef Matthias Platzeck nicht, der exakt spiegelbildlich zu Müntefering links vom Redner-Pult auf der Bundesratsbank Platz genommen hat.
Wie Sphinxen lauschten die Genossen. Merkel weiß, wenn einer der beiden blinzelt, kann das das Ende ihres Kabinetts bedeuten. Wohl auch deshalb ergänzt sie den Ruf nach Freiheit um den Ruf nach sozialem Ausgleich. "Eine Gruppe ist so wichtig, dass sie erwähnt werden muss", sagt Merkel. "Sie wird bei allen Fragen eine wichtige Rolle spielen. Ich meine die Schwachen. Ich meine Kranke, Kinder, Alte. Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen umgehen", sagt sie.
"Das geht auch ohne Sie, Frau Künast"
Nur einmal in diesen 90 Minuten gelingt es Merkel, im Plenum des Reichstags zu punkten. Gerade hat sie die Öffnung Deutschlands hin zum Welthandel gefordert, die soeben in Brüssel beschlossene Zuckermarktreform gepriesen, als die vormalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast die Stirn runzelt. "Ja, Frau Künast," schießt es da aus Merkel heraus "das geht auch ohne Sie."
Erstmals an diesem Tag können die Abgeordneten kurz lachen, über die Kanzlerin und über die Politik dieser neuen, großen Koalition. Es ist ein rares Erlebnis an diesem Mittwoch, der wohl oder übel die Premiere eines neuen Berliner Politikstil mit sich gebracht hat: Nüchtern, vermeintlich solide, ein wenig langweilig. Sehr technisch eben. Jeder der Beteiligten will den Kurzschluss vermeiden. Allen voran Angela Merkel.