Was in zahllosen Fällen zuvor gängige Praxis war, soll für den CDU-Altkanzler nicht gelten. Bei den Neu-Bundesbürgern, auf die das Stasi-Unterlagengesetz in den letzten zehn Jahren uneingeschränkt Anwendung fand, muss ein schaler Nachgeschmack bleiben.
Die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler sind ebenfalls geteilter Meinung über die Gerichtsentscheidung gegen die Veröffentlichung der Stasi-Akten von Alt-Kanzler Helmut Kohl (CDU). Während der heutige Vizechef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Günter Nooke, das Urteil scharf kritisierte, zeigten sich der CDU-Abgeordnete Arnold Vaatz und der Studienleiter der evangelischen Akademie Sachsen-Anhalts, Friedrich Schorlemmer (SPD), zufrieden. Nach Ansicht des innenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, wird die Arbeit der Stasi-Unterlagen-Behörde durch das Urteil nicht in Frage gestellt.
Das Berliner Verwaltungsgericht hatte am Mittwoch einer Klage von Alt-Kanzler Kohl stattgegeben. Danach dürfen einige tausend Seiten Stasi-Abhörprotokolle nicht gegen Kohls Willen veröffentlicht werden.
Nooke erklärte am Donnerstag im Deutschlandfunk, die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts stehe »im Widerspruch zur zehnjährigen Praxis der Behörde«. Es sei daher richtig, dass die Stasi-Akten-Behörde gegen das
Urteil Berufung einlegen wolle. Der Entscheidung hafte der Beigeschmack an, dass erst nachdem es mit Kohl um eine »ganz große Person der Zeitgeschichte« ging, das Stasi- Unterlagengesetz neu ausgelegt worden sei, meinte Nooke. In einem vereinten Deutschland müssten aber gleiche Gesetze für alle gelten.
Gauck-Behörde überflüssig?
Wenn das Urteil in der jetzigen Form Bestand hat, wird nach Nookes Einschätzung ein großer Teil der Stasi-Unterlagen-Behörde überflüssig. Der Versuch der Rekonstruktion der Geschichte könne dann nur noch anhand der Täterakten unternommen werden. »Das ist natürlich zu wenig.« Für den Fall einer Bestätigung des Urteils in der nächsten Instanz sprach sich Nooke für eine Klarstellung im Gesetz aus. Eine Anpassung solle dann nicht an das Datenschutzrecht, sondern an die zehnjährige Praxis der Behörde erfolgen.
Vaatz sagte der in Halle erscheinenden »Mitteldeutschen Zeitung« (Donnerstag), ein Rückgriff auf die Akten zu Kohl wäre einer »vollständigen Verwischung der Grenzen zwischen Tätern und Opfern gleichgekommen«.
Schorlemmer stellte mit Genugtuung fest: »Der Rechtsstaat hat ein Wort gesprochen.« Er fügte hinzu: »Auch für den Bürger Kohl gilt der Status des Betroffenen.« Im Übrigen könnten Wissenschaftler Erkenntnisse über die Arbeitsweise der Staatssicherheit auch auf anderen Wegen gewinnen. Dazu sei es nicht nötig, »zu Lasten von Abgehörten« vorzugehen.
Der SPD-Politiker Wiefelspütz sagte im Inforadio Berlin-Brandenburg, es gehe nur um den kleinen Bereich des Umgangs mit den Stasi-Akten von Personen der Zeitgeschichte. Der Kern der Aufklärungsarbeit werde nicht in Frage gestellt. »Wer Täter gewesen ist, wer Stasi-verstrickt gewesen ist als prominenter Zeitgenosse, sei es in Ost, sei es in West - dessen Akte wird auch in Zukunft offen sein.« Das Stasi-Unterlagengesetz sei aber nicht geschaffen worden, etwa um die Parteispendenaffäre um Kohl in Westdeutschland aufzuklären.