Neonazi-Prozess "Demokratie aus den Angeln heben"

Sie erschienen adrett zum Prozess am Bayerischen Obersten Landesgericht. Fünf Neo-Nazis sind angeklagt, ein Attentat auf das jüdische Zentrum in München geplant zu haben. Schon am ersten Tag packte eine "Kameradin" aus.

Im Terror-Prozess wegen des geplanten Bombenanschlags auf das Münchner Jüdische Zentrum wollen die fünf Angeklagten auspacken: Bereits zum Prozessauftakt am Mittwoch erhob eine Angeklagte schwere Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Drahtzieher. Der Rechtsextremist Martin Wiese habe zum Ziel gehabt, "die bestehende Demokratie aus den Angeln zu heben", berichtete die 22-jährige Jessica F. vor dem Bayerischen Obersten Landgericht.

Nach ihrer Aussage wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, weil drei Angeklagte zur Tatzeit noch minderjährig waren. Drei Frauen und zwei Männer sind wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe beziehungsweise deren Unterstützung angeklagt. Sie sollen als Führungstruppe rund um Wiese den Anschlag vor rund einem Jahr geplant haben. Am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, wollten sie bei der Grundsteinlegung für das Jüdische Zentrum in München eine Bombe hochgehen lassen. Dabei sollen sie laut Anklage den Tod von Menschen in Kauf genommen haben.

Den Eindruck gewalttätiger Bombenattentäter wollten sie vermeiden

Den Eindruck brutaler Neonazis und gewalttätiger Bombenattentäter wollten die Angeklagten zum Prozessbeginn tunlichst vermeiden. Adrett gekleidet und mit bangem Gesichtsausdruck erschienen die Beschuldigten zwischen 18 und 38 Jahren im von der Polizei abgeriegelten Gerichtssaal. Fotos und Filmaufnahmen von den drei zur Tatzeit Jugendlichen waren verboten. Die Verteidiger hatten das mit der Drohung durchgesetzt, sonst würden die Angeklagten nicht aussagen.

Bevor die 22-jährige Jessica F. sich über die rechtsextremistische Gruppe "Aktionsbüro Süd" äußerte, wischte sie sich Tränen aus den Augen. Mit heiserer Stimme berichtete die Auszubildende, dass der in einem separaten Verfahren angeklagte Wiese Anführer der Kameradschaft gewesen sei. "Es war definitives Ziel von Wiese, die bestehende Demokratie aus den Angeln zu heben", sagte sie. "Wiese war dem nationalsozialistischen Staat wohl gesonnen und wollte das Ganze eins zu eins übernehmen."

Kameradschaft wollte alle rechtsorientierten Gruppen vereinen

Die Kameradschaft mit 50 bis 60 Mitgliedern habe zudem alle rechtsorientierten Gruppen in München vereinen wollen, sagte Jessica F. Wiese habe geplant, das Aktionsbüro auf ganz Deutschland und Österreich auszuweiten. Sie selbst stamme aus schwierigen Familienverhältnissen und sei über Freunde in die Neonazi-Gruppe gelangt, die sich regelmäßig zu Stammtischen getroffen habe.

In der Kameradschaft stieg die 22-Jährige nach eigenen Worten rasch in den Führungszirkel um Wiese auf, die so genannte Schutzgruppe: "Das waren die Leute, die im Zweifelsfall für ihn sterben würden." Die "Eliteeinheit" habe jeden Sonntag in Wäldern bei München paramilitärische Übungen absolviert. Unter Wieses strengem Kommando habe die auch in der Kameradschaft geheime Gruppe in Tarnkleidung Angriffe und Abwehr geübt und mit Soft-Air-Pistolen geschossen.

Erst als Wiese scharfe Waffen einsetzen wollte, geriet seine zeitweilige Stellvertreterin Jessica F. nach eigenen Angaben ins Zögern. Der Ausstieg aus der Neonazi-Truppe sei ihr zu diesem Zeitpunkt unmöglich erschienen, sagte die junge Frau, die jetzt die Szene hinter sich gelassen haben will. Der Ausstieg wäre "hochgradiger Verrat" gewesen. "Für diesen Fall hätten wir mit Sanktionen rechnen müssen - harmlos ausgedrückt", beschreibt F. und berichtete von Einschüchterungsaktionen mit Waffen und Schlägen.

Jessica F. kümmerte sich um Nachwuchswerbung

"Wiese war cholerisch und in seinen Entscheidungen spontan", sagte die 22-Jährige weiter. Der Rechtsextremist habe zudem mit angeblichen Kontakten zur Polizei geprahlt, mit denen er von Verrätern erfahren hätte.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Jessica F. räumte weiter ein, den "Frauenbund" der Kameradschaft geleitet und sich um die Nachwuchswerbung gekümmert zu haben. Außerdem habe sie sich am Ausspähen von Daten politischer Gegner beteiligt, indem sie "Adressen von Linken" auf ein Blatt abgeschrieben habe. Nach den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft soll die 18 Jahre alte Angeklagte Monika S. als Angestellte der Postbank im Dienst Adressen und Kontodaten ausgespäht haben. Der 19-jährige Thomas S. habe den SPD-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Franz Maget, beobachtet.

Alle Prozess-Zuschauer mussten den Saal räumen

Nach den Äußerungen von Jessica F. beantragten die Verteidiger gemeinsam, die Öffentlichkeit auszuschließen. Der Senatsvorsitzende Bernd von Heintschel-Heinegg folgte dem Antrag, "um eine offene und freie Einlassung der zur Tatzeit Jugendlichen zu erleichtern und spätere persönliche und berufliche Probleme zu vermeiden". Zwei der Angeklagten befinden sich in der Ausbildung, die anderen sind Schüler oder arbeitslos. Zahlreiche Pressevertreter und Zuhörer, darunter auch Neonazis mit Glatze, Springerstiefeln und Totenkopf-Tätowierungen, räumten den Saal. Zu den Skinheads hatte die Angeklagte Ramona S. zuvor mehrmals Blickkontakt gesucht.

Der 19-jährigen Ramona S. warf Bundesanwalt Bernd Steudl zudem vor, mit Wiese und anderen in Ostdeutschland Sprengstoff für das Attentat besorgt zu haben. Dabei habe ihnen der fünfte Angeklagte geholfen, der 38-jährige Arbeitslose Andreas J. Illegale Sprengstoffbeschaffung und Verstöße gegen das Waffengesetz lauten die weiteren Anklagepunkte.

Urteil wird für Mitte November erwartet

Wie konkret die Anschlagspläne und die Ersatzpläne für einen Anschlag auf den Marienplatz waren, woher die Truppe Geld beschaffte und welche Rolle ein eingeschleuster V-Mann spielte, könnte sich im Verlauf des Prozesses klären. Das Urteil soll voraussichtlich Mitte November verkündet werden. Das Strafmaß für Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung liegt bei bis zu zehn Jahren Haft. Der Prozess gegen Wiese soll noch in diesem Jahr beginnen, die Anklage ist aber noch nicht zugelassen.

AP
Irene Preisinger/AP