Das Schöne an einer Kolumne ist, dass sie anders funktioniert als andere journalistische Formen, wie etwa eine Nachricht, eine Reportage oder ein Kommentar. Ich muss keinen bestimmten Aufbau beachten, brauche nicht die sieben W (Wer, Was, Wann, Wo, Wie, Warum, Wozu) abzuhaken und darf hemmungslos in der ersten Person Singular fabulieren. Und wenn die Hauptsätze zwischen all den Nebensätzen kaum mehr erkennbar sind, dann ist das eben meine kolumnistische Freiheit.
Dies gilt unbedingt auch für den Inhalt. Gerade habe ich einen viel zu langen Absatz mit viel zu langen Sätzen damit zugebracht, darüber zu schreiben, wie ich eine Kolumne schreibe. Und spätestens nach dem zweiten Satz, das sagen mir alle Datenanalysen des großartigen stern-Datenanalyseteams, ist der als User bezeichnete Leser am Mobiltelefon weggescrollt, zumal ich nicht einmal einige suchmaschinenoptimierten Ost-Triggerworte (Björn Höcke! Sahra Wagenknecht! Neonazis!) untergebracht hatte. (Jetzt aber schon.)
Das tiefblaue DDR-T-Shirt
Übrig sind mithin nur noch jene genügsamen Menschen, die zu meiner großen Dankbarkeit Interesse daran finden, mich durch meinen gedanklichen Irrgarten zu begleiten. Denn so entsteht bei mir eine Kolumne: Ich habe irgendeine mehr oder minder sinnhafte Idee, und dann fange ich an, vor mich hinzuschreiben. Am Ende bin ich zuweilen selbst darüber überrascht, was dabei herausgekommen ist.
Bleibt nur jedes Mal die Frage: welche Idee?

Ganz Naher Osten
stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst
Zum Beispiel. Am Freitag radelte ich in Erfurt über den Domplatz und hielt an einem der Marktstände an, um spontan Bioeier vom Biobauern zu kaufen. Der Verkäufer trug ein tiefblaues T-Shirt, auf dessen Rückseite in großen Lettern DDR stand, und vorne noch einmal DDR, nur kleiner, direkt über einem Hammer mit Zirkel im Ährenkranz, also, dies sei für Nachgeborene angemerkt, dem Wappen der DDR.
Aufgrund so viel DDR auf einmal entspann sich ungefähr folgender Dialog:
Ich: "Interessantes T-Shirt."
Verkäufer: "Das ist das Shirt der DDR-Fußballmannschaft, die 1974 die BRD geschlagen hat."
Ich: "Ach ja, stimmt, das Tor schoss damals dieser, wie hieß er noch gleich … Sparwasser?"
Verkäufer: "Genau der! Ich bin 1965 geboren, hab 25 Jahre in der DDR gelebt. Das war keine schlechte Zeit. Das war nicht nur eine gute Zeit. Aber es war auch nicht nur eine schlechte Zeit."
Und dann war da diese Idee
Mir fiel zu der Es-war-nicht-alles-gut-aber-auch-nicht-schlecht-Rede leider nichts Intelligentes ein. Ich hatte sie wahrscheinlich einfach schon zu oft gehört. Auch schien die Sonne gar lieblich über den Osten der Bundesrepublik, und ich wollte noch am Verkaufswagen nebenan die hausgeschlachtete Wildschweinleberwurst erwerben.
Ich bezahlte also meine Eier (Stück 50 Euro-Cent aka eine Westmark), und während ich dies tat, war sie plötzlich da: die Idee. Mir fiel ein, wie meine Kollegin Miriam Hollstein und ich vor ein paar Wochen im Bundestagsbüro von Heidi Reichinnek saßen und mit ihr über den von ihrer Partei so ausdauernd propagierten Sozialismus sprachen und darüber, dass dieser in der Vergangenheit nicht so gut funktioniert habe.

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Die linke Fraktionschefin antwortete: "Na ja, das in der DDR war kein Sozialismus. Also nicht so, wie ihn sich meine Partei vorstellt."
Wir entgegneten: "Wir meinen nicht bloß die DDR. Wir meinen alle sozialistischen Versuche, auch die eines sogenannten demokratischen Sozialismus."
Reichinnek: "Wir wollen das Wirtschaftssystem ändern, nicht das politische System umstürzen. Andere Parteien wie die AfD, die wollen die Demokratie abschaffen!"
Und so weiter und so fort. Sie können es in Gänze hier nachlesen.
Als nun diese Woche das Interview im aktuellen stern erschien, zeitigte es, nun ja, ein paar Reaktionen. Der einzige CSU-Ministerpräsident Markus Söder machte eine Pause vom "Wurstgefresse" (Robert Habeck), um im Leder seines Autos per Instagram-Video mitzuteilen, dass die DDR "Sozialismus pur" und im Übrigen "ein Unrechtsstaat" gewesen war. Ähnlich entsetzt äußerten sich, in alphabetischer Reihenfolge: Der Freie-Wähler-Vorsitzende Hubert Aiwanger, die Chefin der Mittelstands- und Wirtschaftsunion namens Gitta Connemann, der FDP-Vorsitzende Christian Dürr (ja, so heißt der jetzt) sowie die CDU-Bundestagsabgeordneten Otilie Klein und Christoph Ploß.
Was Heidi Reichinnek von ihren Eltern lernte
Der von mir sehr geschätzte Kollege Hajo Schumacher merkte im ebenso geschätzten Podcast "Apokalypse & Filterkaffee" an, dass er den Interviewern, also Miriam und mir, einen "kleinen Vorwurf" machen müsse. "Weil nach dieser Antwort von Frau Reichinnek – 'das in der DDR war kein Sozialismus' – hätte ich mir schon noch eine Nachfrage gewünscht: Was war das denn? Wie würden Sie das denn nennen, was das dann war? Die fehlte mir ein bisschen."
Ich akzeptiere diese Kritik, lieber Hajo, möchte aber erläutern, warum ich die gewünschte Nachfrage unterließ. Denn im Unterschied zu ihm und den berufsempörten Politikern habe ich im DDR-Sozialismus gelebt und glaube zu wissen, wie Reichinnek ihre beiden inkriminierten Sätze meinte, denn es sind zwei und nicht nur einer.
Ich habe erlebt, dass das, was in der DDR als Sozialismus real existierte, nicht der Sozialismus war, wie ihn der Unionspartner SPD immer noch im Grundsatzprogramm stehen hat, sondern eine piefige Diktatur. Und ich habe erlebt, dass in der DDR die sogenannte Arbeiterklasse beim sogenannten Volkseigentum nichts mitzuentscheiden hatte, während das SED-Politbüro fröhlich Misswirtschaft betrieb. Im Übrigen war der Staat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte, alles Mögliche, nur halt nicht demokratisch.
All dies und noch viel mehr erfuhr die 1988 in die siechende DDR hineingeborene Heidi Reichinnek wohl auch von ihren Eltern, die nicht in der SED waren, aber dafür in der Kirche. Sie hätten ihr erklärt, "dass die DDR nicht funktioniert" habe, sagte Reichinnek uns im Interview. "Die wollen sie nicht wiederhaben. Und wir ja auch nicht."
Dem schließe ich mich an dieser Stelle einfach mal an und der Verkäufer mit dem DDR-T-Shirt wahrscheinlich auch. Aber ich werde, na klar, bei ihm noch einmal hart nachfragen, wenn ich wieder auf dem Domplatz zu Erfurt meine Bioeier kaufe. Pionierehrenwort!